Podcastcover Kalkar 81: Eine Frau vor zwei Kraftwerken, davor Anti-Atomkraftwerk-Proteste.
Eine Collage von verschiedenen schwarz-weiß Fotos der Proteste rund um Kalkar.

Kalkar 81 - Chronik

Stand: 12.09.2024, 14:00 Uhr

Kalkar am Niederrhein - eine Stadt im Zentrum der Anti-Atomkraft-Bewegung. Entdecke die entscheidenden Ereignisse und ihre historischen Zusammenhänge in unserer Chronik.

In den 1970er und 80er Jahren war die Stadt Kalkar Dauerthema in den Nachrichten: ein Atomkraftwerk sollte gebaut werden und dieses Vorhaben polarisierte. Bis zu 40.0000 Menschen wurden bei Demos gegen den Schnellen Brüter gezählt, es entstand die deutsche Anti-AKW-Bewegung, die durch ihr zivilgesellschaftliches Engagement bis heute maßgeblich zur Energiewende beitrug. Das Kraftwerk wurde trotz der Proteste 1985 fertiggestellt, ging aber wegen sicherheitstechnischer und politischer Bedenken niemals in Betrieb. Heute dient der ehemalige Brüter als wohl ungewöhnlichster Freizeitpark Deutschlands: Das Wunderland Kalkar. Die Hörspiel-Serie basiert auf diesen Ereignissen, verdichtet und dramatisiert sie.

1969 - 1973: Vor dem Baubeginn

Ortsschild der Stadt Kalkar, Kreis Kleve.

1969 entsteht das Bauvorhaben Schneller Brüter mit einer Investitionssumme von rund 500 Millionen Mark. Wegen einer zu hohen Bevölkerungsdichte kommt der von RWE geplante Standort Weisweiler bei Aachen jedoch nicht in Frage.

1971 entscheidet sich die NRW-Landesregierung für Kalkar, Ortsteil Hönnepel, als neuen Standort: das Gelände wird vor allem landschaftlich genutzt, die Bevölkerungsdichte kleiner. Die meisten Menschen hier sind dem Projekt gegenüber zunächst aufgeschlossen, erhoffen neue Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Aufschwung. Doch regt sich auch erster Widerstand: Sechs Personen gründen die Interessengemeinschaft gegen radioaktive Verseuchung - unter ihnen ist auch der katholische Bauer Maas aus Hönnepel, der später zu einer zentralen Figur im Kampf gegen den Brüter wird.

1972 garantiert das Bundesministerium für Forschung und Technologie die Finanzierung des Schnellen Brüters  mit rund 1,7 Milliarden Mark. Der Bauauftrag geht durch Deutschland, Belgien und die Niederlande an die Siemens-Tochter Interatom.

1973 - 1977: Der Bau des Brüters und erste Demos

Protestierende und Polizei treffen am 24. September 1977 in Kalkar aufeinander.

Am 29. April 1973 startet der Bau des AKW Kalkar. Das Besondere am Schnellen Brüter ist, dass er mit Natrium gekühlt wird und selbst Plutonium produziert, welches hochgradig radioaktiv ist.

1974 findet die erste Gegen-Demonstration in Kalkar mit mehreren tausend Teilnehmenden statt. Einige Brüter-Gegner erheben Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages erwirkt eine vierjährige Bauunterbrechung. Die Kosten des Baus inklusive neuer Sicherheitsvorkehrungen liegen mittlerweile bei rund 7 Milliarden Mark.

Am 24. September 1977 findet mit 40.000 Demonstrierenden die größte Demonstration gegen das Kalkarer Kernkraftwerkmit großem Polizeiaufgebot statt. Bei der polizeilichen Räumung der durch Demonstrierende besetzten Rheinbrücke Rees-Kalkar kommt es zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Teilnehmenden. Mehr als 20 Menschen werden verletzt, über 8000 Gegenstände wie Pistolen oder Molotow-Cocktails beschlagnahmt. Es kommt zu einem kurzfristigen SEK-Einsatz. Bei der anschließenden Pressekonferenz vor dem Kreishaus in Kalkar wird Kritik am Vorgehen der Polizei laut. Die Demonstrierenden fordern in einem offenen Brief den Rücktritt des amtierenden Polizeichefs.

1978 - 1979: Widerstand gegen das AKW Kalkar

Bei Protesten in Kalkar werden Wasserwerfer eingesetzt.

Am 8. August 1978 konstatiert das Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass der Bau trotz Restrisikos tragbar sei. Der Kreisverband Kleve der CDU lädt daraufhin die Kalkarer Bevölkerung zu "Energiegesprächen" ein; mit Themen wie u.a. "Energiewachstum - Voraussetzung für Wohlstand?". Musiker Frank Bauer veröffentlich die Platte Lieder gegen Atomkraft mit dem Bauer Maas-Lied, gewidmet dem gleichnamigen Bauern.

Am 28. März 1979 führt der Reaktorunfall im Kernkraftwerk Three Mile Island in Harrisburg, USA, zu weltweiten Reaktionen. In Folge des Unfalls in Harrisburg kommt es in Hannover zur bisher größten Demonstration gegen Kernenergie in der Bundesrepublik. Atomkraftgegner aus dem In- und Ausland protestieren am 31. März gegen den geplanten Bau des atomaren Entsorgungszentrums in Gorleben.

Am 3. Juni 1979 kommt es bei einer Demonstration mit ca. 10.000 Demonstrierenden am Brütergelände zu Steinwürfen und Sachbeschädigungen bei dem Versuch auf das AKW-Gelände zu gelangen.

1981 - 1983: Hof Maas als Zentrum der Bewegung

Protestierende vor dem Melkstall von Bauer Maas.

1981: Der von Bauer Maas als Informationszentrum der Bewegung zu Verfügung gestellte Melkstall gegenüber des Brütergeländes war 1977 von der Polizei geschlossen worden, mit der Begründung der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Nun wird das Freundschaftshaus wieder eröffnet. Bauer Maas beginnt zudem, sein Land für 10,- Mark pro Quadratmeter an die Aktivist:innen zu verpachten, um ihren Aufenthalt auf dem Gelände zu legalisieren. Ein Anti-Atom-Hüttendorf wird errichtet, ein Stop-Kalkar-Musikfest geplant. Immer wieder kommt es zu Razzien und Auseinandersetzungen mit der Polizei auf dem Gelände.

1982 initiieren AKW-Gegner und Die Grünen NRW die Aktion Kalkargroschen ohne uns, einen Zahlungsboykott der 4. Strompreis-Erhöhung der RWE in 2 Jahren, die durch den Brüter-Bau begründet wurde. Im September spricht sich die aus Wissenschaftler:innen, Politiker:innen und Fachleuten zusammengesetzte Enquete-Kommission für die Inbetriebnahme des Schnellen Brüters in Kalkar aus und empfiehlt dem Bundestag damit, den 1978 beschlossenen politischen Vorbehalt wegen Sicherheitsbedenken gegen die Inbetriebnahme des Schnellen Brüters aufzugeben.

Am 2. Oktober 1982 kommt es zu wieder einer erneuten Großdemonstration in Kalkar und es findet ein ökumenischer Feldgottesdienst mit dem Thema Leben in bedrohter Schöpfung gegenüber des Brüter-Geländes statt. Bis 1983 kommt es immer häufiger zu Aktivismus rund um die Verhinderung des AKW-Baus in Kalkar, u.a. werden Parolen mit Sprühfarbe am AKW-Gelände hinterlassen und es wird in Spontanaktionen versucht, auf das Gelände einzudringen.

1983 - 1985: Zweifel am Schnellen Brüter

Die Baustelle des Schnellen Brüters.

Am 5. November 1983 wird mit dem Reaktortankdeckel die letzte Großkomponente des Brüters angeliefert.

1984 entzünden sich auf dem Dach des Reaktorgebäudes etwa 200 kg Natriumpartikel, die bei Inbetriebnahmeversuchen unbeabsichtigt nach oben gelangten. Die Ummantelung und die Dachabdeckung des Brüters brennt ab. Der Störfall wird in der Presse als "Dachpappenbrand" verharmlost, später wird aber eingeräumt, es seien auch einige "Natriumpartikelchen" im Spiel gewesen.

1985 kommt es zur baulichen Fertigstellung des AKW Kalkar mit dem Reaktor SNR-300 (Schneller Brüter). 

1986 - 1995: Die Jahre nach der Fertigstellung

Das Kettenkarusell im Freizeitpark Wunderland Kalkar.

1986 erschüttert die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl in der Ukraine die Welt. Entgegen dem Wunsch der Bundesregierung (einer Koalition aus CDU/CSU und FDP) verweigerte das Land Nordrhein-Westfalen nun die Betriebsgenehmigung für das AKW Kalkar. Der für die Baugenehmigungen zuständige NRW-Sozial- und Arbeitsminister Friedhelm Farthmann (SPD) hält die Inbetriebnahme für nicht vertretbar, da die Risiken nicht kalkulierbar seien und die vormaligen Errichtungsgenehmigungen auch nur unter Vorbehalt erteilt worden waren. Die Brennelemente dürfen daher nicht in den Reaktorkern gebracht werden.

1991 wird das Projekt Schneller Brüter aus sicherheitstechnischen und politischen Bedenken eingestellt. Es erreicht zu diesem Zeitpunkt Kosten von rund 7 Milliarden Mark und ist damit eine der größten Investitionsruinen Deutschlands. Das Förderprogramm Kalkar 2000 wird ins Leben gerufen, um den durch das gescheiterte Bauprojekt entstandenen finanziellen Schaden der Stadt in Höhe von rund 120 Millionen Mark auszugleichen.

1995 kauft der niederländische Unternehmer Hennie van der Most das Kernkraftwerk und eröffnet auf dem Gelände das Kernwasser-Wunderland (ab 2005 Wunderland Kalkar), bestehend aus einem Kongresszentrum, Hotels und einem Familien-Freizeitpark.