Bei der Sommerfrische des Jahres 1909 war selbstverständlich auch Schönbergs Frau Mathilde mit dabei – und deren Bruder: Alexander Zemlinsky. Schönberg hatte ihn 1895 im Laienorchester "Polyhymnia" kennengelernt und dann Kompositionsunterricht bei dem drei Jahre Älteren genommen. Anfangs blickt Schönberg zu Zemlinsky auf, doch er lernt schnell. Als beide die neu erschienene Partitur von Richard Strauss’ "Ein Heldenleben" studieren, sind sie davon gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen. Und doch löst dieses Werk bei beiden einen kompositorischen Reflex aus: Schönberg begibt sich an die Arbeit seiner sinfonischen Dichtung "Pelleas und Melisande", und Zemlinsky widmet sich seiner Fantasie für Orchester "Die Seejungfrau". Sie eifern um die Wette. Bei der Uraufführung beider Kompositionen am 25. Januar 1905 im selben Konzert hat Zemlinsky schließlich das Gefühl, sein Schwager habe die Nase vorn. Die Publikums- und Kritikerreaktionen legen dies nahe. Entmutigt lässt Zemlinsky sein dreiteiliges Werk in der Schublade verschwinden. Oder doch nicht ganz: Den ersten Teil vermacht er später Marie Pappenheim, der Librettistin der "Erwartung". Die anderen beiden Teile nimmt Zemlinsky bei seiner Flucht vor den Nationalsozialisten 1938 mit über den Atlantik. Erst Anfang der 1980er Jahre stellen Forscher fest, dass die getrennten Partituren zusammen "Die Seejungfrau" bilden.
Mit glühenden Orchesterfarben schildert Zemlinsky darin das Märchen von der kleinen Meerjungfrau von Hans Christian Andersen. In einem Brief an Schönberg hat er die Stationen seiner Komposition beschrieben: Der 1. Teil beginnt hörbar "am Meeresgrund". Verkörpert durch die Solovioline, erscheint die Seejungfrau. Ihren Fischschwanz lässt sie von der Meerhexe in zwei Menschenbeine verwandeln. Dafür opfert sie ihre Stimme, kann aber in die "Menschen-Welt" auftauchen. Im 2. Teil ist schillernd der wogende "Sturm" zu hören, außerdem "des Prinzen Errettung" durch die Seejungfrau. Der 3. Teil schildert ihre "Sehnsucht", "des Prinzen Vermählung" mit einer anderen, und das Ende der Seejungfrau als Schaum auf den Kronen der Wellen.