A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L
M
N
O
P
Q
R
S
T
U
V
W
X
Y
Z

Jörg Widmann - Messe für großes Orchester

WDR Sinfonieorchester Video 04.11.2019 41:55 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 WDR 3

Werkeinführung: Jörg Widmann - Messe für großes Orchester

Von Clemens Matuschek

Muss man an Gott glauben, wenn man eine Messe komponiert? Kann man angesichts unserer brutalen Realität so naiv anmutende Zeilen wie "Friede auf Erden" vertonen? Jörg Widmann hatte da so seine Zweifel – und fand eine elegante Lösung.

Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann

Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann

Gerade die selbst auferlegte Herausforderung, in unseren säkularen Zeiten eine Messe zu vertonen, reizte den Komponisten sehr, als er Anfang der 2000er Jahre einen Kompositionsauftrag der Münchner Philharmoniker erhielt. Ohnehin beschäftigte er sich damals vermehrt mit textbasierten Genres wie Lied und Choral. Allerdings mit einem besonderen Dreh: Er verzichtete auf Gesangsstimmen und ließ allein die Orchesterinstrumente singen, deklamieren, jubeln oder klagen. Damit knüpfte er einerseits an die klassische Phrasierungslehre an, die Melodien am natürlichen Sprachfluss ausrichtet, andererseits ganz konkret an Felix Mendelssohn, der einst "Lieder ohne Worte" komponierte.

Dieses Konzept wandte Widmann auch in der "Messe für großes Orchester" an; die Musiker*innen sind, wie er sagt, "Soli, Chor und Orchester in einem". Tatsächlich ist der lateinische Messtext als stumme Orientierungshilfe unter ihren Notenzeilen notiert. Wobei sich Widmann, der musikhistorischen Tradition folgend, nur bestimmte Teile herausgriff: Kyrie, Gloria und die für ihn zentralen Verse des Credo, die von Jesu Kreuzigung und Auferstehung handeln. Sanctus und Agnus Dei dagegen fehlen ganz. Dafür sind (teils kontrapunktische) Zwischenspiele eingeschoben, die nicht mehr dem Text folgen, aber seinen theologischen Gehalt ausdeuten.

Das Kyrie, die flehende Bitte um Erbarmen, nimmt in dieser Messe den größten Raum ein, wie Widmann erklärt: "Der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch ist Thema der 'Monodia', fast zehnminütiger nackter Einstimmigkeit." Reizvoll zu verfolgen ist, wie sich dabei unterschiedliche Instrumente abwechseln und so unmerklich die Klangfarbe variieren. In der Folge fächert sich die Monodie in "zwei streng kanonisch geführte Linien auf, die für den vielleicht tatsächlich unvereinbaren Gegensatz von menschlichem und göttlichem Prinzip stehen".

Als besonders problematisch empfand Widmann die Vertonung des Gloria mit seiner "blinden Affirmation". Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden? "Das haben wir doch bis heute nicht erreicht!" Die Lösung lag für ihn darin, seine Zweifel in der Musik transparent zu machen: So grell übersteigert das Gloria mit Glocken und Blech hervorbricht, so "unerbittlich" erinnern die Streicher leise an den Wunsch nach Frieden.

Wie zum Hohn folgt ein leiderfülltes, fast gespenstisches Crucifixus – "eine Art Golgotha-Szene", wie Widmann es formuliert. Das tonlose Atmen der Bläser erinnert an die letzten Atemzüge des Gekreuzigten. Umso mächtiger wirkt die anschließende Auferstehung. Kein plötzliches Emporschießen, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, sondern eine langsame Transfiguration, bis sich "ein Klangraum auftut, der keinen Gravitationsgesetzen mehr gehorcht", so Widmann. "Das allmähliche Hinübergleiten in einen anderen Aggregatzustand – wahrscheinlich ins Licht."