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Dmitrij Schostakowitsch - Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 "Das Jahr 1905"

WDR Sinfonieorchester Video 05.04.2019 01:05:06 Std. Verfügbar bis 30.12.2099 WDR 3

Werkeinführung: Dmitrij Schostakowitsch - Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 "Das Jahr 1905"

Von Marcus Imbsweiler

Eigentlich ist die Sache klar: In der 11. Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch geht es um die Revolution von 1905 – so legt es der Titel nahe. Unter vier Augen allerdings soll der Komponist behauptet haben, sie beziehe sich auf die Gegenwart, also die 1950er Jahre. Was stimmt denn nun?

Der Komponist Dmitri Schostakowitsch

Komponist Dmitrij Schostakowitsch

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Entstehungsumstände des Werks. Nach dem Tod Stalins 1953 hatte sich das innenpolitische Klima in der Sowjetunion deutlich verbessert. Schostakowitschs 10. Sinfonie zum Beispiel, eine Art Abrechnung mit dem Diktator, wurde nicht nur aufgeführt, sondern sogar zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte. Andere Werke, wie das 1. Violinkonzert, die 4. Sinfonie oder die Oper "Lady Macbeth von Mzensk", durften endlich (wieder) gespielt werden – die "Tauwetterperiode" war angebrochen.

Trotzdem gab es weiterhin Schikanen: Der Schriftsteller Boris Pasternak wurde mundtot gemacht, andere kritische Geister ihres Amts enthoben. Chruschtschow, der neue starke Mann im Kreml, distanzierte sich zwar von den Methoden Stalins, hatte aber für zeitgenössische Musik und Kunst nur Verachtung übrig. Und auf die Proteste in Ungarn reagierte er 1956 mit derselben Brutalität wie sein Vorgänger.

Angesichts dieser widersprüchlichen Signale war völlig offen, welchen Weg Politik und Gesellschaft gehen würden. Schostakowitschs Antwort mutet zunächst überraschend an, ist aber nur konsequent: Seine Sinfonie richtet den Blick zurück, auf die historischen Wurzeln der Sowjetunion. Schon 1905, zwölf Jahre vor der Oktoberrevolution, hatte es Proteste gegen den Zaren gegeben, gipfelnd im Petersburger Blutsonntag, als das Militär auf friedliche Demonstranten schoss. An diese gescheiterte Erhebung, das Vorspiel zu 1917, erinnert die Sinfonie Nr. 11 (1956/1957).

Mahnung an die Machthaber von heute?

Wie ihr Titel "Das Jahr 1905" nahelegt, hat sie ein klares Bildprogramm: Wir tauchen ein in die angespannte Atmosphäre vor dem Zarenpalast (1. Satz), werden Zeugen der Konfrontation zwischen Volk und Militär (2. Satz), trauern um die Toten (3. Satz) und richten den Blick in die Zukunft (4. Satz). Diese Bildlichkeit ist so stark, dass sie formale Aspekte in den Hintergrund drängt. Das Grundgerüst einer klassischen viersätzigen Sinfonie inklusive thematischer Arbeit ist zwar erkennbar, wird aber vom "Erzählvorgang" überlagert. Immer wieder tauchen Themen, ja sogar ganze Abschnitte aus früheren Sätzen in späteren auf und weben so ein dichtes Beziehungsgeflecht. Die Anfangstakte etwa, die mit ihren flirrenden, spannungsreichen Streicherklängen die Stimmung auf dem Schlossplatz einfangen, kehren im 2. Satz, der ja an gleicher Stelle spielt, wieder. Und die Drohgebärden des Militärs (Pauken- und Trompetensignale) durchziehen in unterschiedlicher Intensität das gesamte Stück.

Damit tendiert die Elfte zur sinfonischen Dichtung beziehungsweise zur Programmsinfonie. Allerdings weist sie eine Besonderheit auf. Entscheidendes Mittel der Darstellung sind nämlich keine in Töne übersetzte Charaktere oder Handlungen, sondern Lieder. Fast alle Themen, mit denen Schostakowitsch arbeitet, beruhen auf Revolutionsgesängen: traditionellen wie der Trauerode "Unsterbliche Opfer" im 3. Satz (Bratschen) oder selbstkomponierten, die er seinen "Zehn Poemen" op. 88 aus dem Jahr 1951 entnahm. Sie verkörpern bestimmte Haltungen – Verzweiflung, Bitte, Trauer, Trotz, Hoffnung –, und aus diesen Haltungen modelliert Schostakowitsch den Spannungsbogen seiner Sinfonie. Als Beispiel mag der Gesang "Entblößt die Häupter" dienen, der zunächst (2. Satz) verhalten-feierlich, in den Sätzen 3 und 4 dagegen fordernd-aggressiv klingt, wie eine Mahnung an alle Potentaten.

Und hier kommt die Gegenwart ins Spiel: Ist es auch eine Mahnung an Chruschtschow, der auf die eigenen Leute schießen ließ wie damals Zar Nikolaus? Einiges spricht dafür: nicht nur Schostakowitschs lebenslange Solidarität mit der einfachen Bevölkerung, sondern auch die Tatsache, dass er aus einer Familie stammte, die aufgrund ihrer revolutionären Gesinnung einst verbannt worden war. Zudem zitiert er im letzten Satz der Sinfonie die "Warschawjanka", die berühmte "Marseillaise Polens". In der Sowjetunion war sie als Arbeiterhymne bekannt, hatte ihren Ursprung aber im polnischen Freiheitskampf – gegen Russland. Um genau diese Überzeitlichkeit dürfte es Schostakowitsch in seiner Elften gegangen sein: 1905 dient als Muster; die Anwendung bleibt uns Hörerinnen und Hörern überlassen.