Im Oktober 1914, etwa drei Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs, notiert der Philosoph Ludwig Wittgenstein in sein Tagebuch: "Immer wieder muss ich an den armen Paul denken, der so plötzlich um seinen Beruf gekommen ist. Wie furchtbar. Welcher Philosophie würde es bedürfen, um darüber hinwegzukommen!" Wittgensteins Bruder Paul hatte im Jahr zuvor als Pianist im Großen Saal des Wiener Musikvereins debütiert – dem Olymp für eine Musikkarriere. Keine acht Monate später wurde er in einem Gefecht so schwer verletzt, dass sein rechter Arm amputiert werden musste. Aber Paul versetzt seinen Bruder und die ganze Musikwelt in Staunen. Noch in Kriegsgefangenschaft zeichnet er auf einen Pappkarton eine Klaviatur und beginnt wie besessen mit der linken Hand zu üben. Seine Willensstärke bringt ihn drei Jahre später zum neuerlichen Musikvereins-Debüt, diesmal als einarmiger Pianist. Dank des beträchtlichen Vermögens der Industriellen-Familie Wittgenstein vergibt Paul fortan Aufträge für neue Werke. Die berühmtesten Komponisten nehmen die Herausforderung an: Insgesamt zwanzig Stücke für Soloklavier und Orchester entstehen mit der Zeit, darunter Kompositionen von Richard Strauss, Sergej Prokofjew, Paul Hindemith, Benjamin Britten – und eben von Maurice Ravel.
Im Jahr 1929 werden sich die beiden handelseinig: Für 6000 US-Dollar liefert Ravel bereits ein Jahr später das Klavierkonzert. Aber Wittgenstein ist mehr als enttäuscht. Kurzerhand schreibt er den Klavierpart um und überarbeitet auch die Instrumentation. Als Ravel ihn sein Konzert so spielen hört, ist er außer sich vor Wut. Doch Wittgenstein blafft ihn an: "Wenn ich ohne Orchester spielen wollte, hätte ich kein Konzert mit Orchester bestellt. Ich bin ein alter Pianist, und das klingt nicht." Das lässt sich Ravel, einer der größten Meister schillernder Orchesterfarben, nicht bieten. "Ich bin ein alter Instrumentator. Und es klingt doch!" – "Interpreten sind keine Sklaven!" – "Interpreten sind Sklaven!" Die beiden gehen unversöhnlich auseinander. Aber nach fünf Jahren, in denen Wittgenstein die Exklusivrechte an dem Werk besitzt, kann Ravel es endlich so aufführen, wie er es gedacht hat. In dieser Fassung tritt sein D-Dur-Konzert dann den Siegeszug um die Welt an.
Ravel beschreibt das Konzert für die linke Hand im Vergleich zum G-Dur-Pendant: "Das Konzert für die linke Hand ist anders geartet und in einem einzigen Satz mit vielen Jazz-Effekten. Der Stil ist nicht so einfach. In einem Werk dieser Art besteht das Wesentliche darin, dass man nicht den Eindruck eines leichten Klanggewebes erweckt, sondern im Gegenteil die Illusion gewinnt, es sei für beide Hände geschrieben. Auch wählte ich hier einen viel imposanteren Stil – so, wie ihn das traditionelle Konzert liebt."