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Sergej Rachmaninow - Die Toteninsel op. 29

WDR Sinfonieorchester Video 23.03.2022 23:10 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 WDR 3

Werkeinführung: Sergej Rachmaninow - Die Toteninsel op. 29

Von Eckhard Weber

Der junge Sergej Rachmaninow

Ein morbides mediterranes Panorama: eine kleine Felseninsel, deren aufragende Felsen zum Betrachter hin einen offenen Hof bilden. Darin befindet sich ein hoher Zypressenhain, in den Felsen sind Grabkammern zu erkennen. Vor der Insel legt gerade ein Boot mit einem Sarg und einer weißverhüllten Gestalt an. Das symbolistische Landschaftsbild "Die Toteninsel" des Schweizer Malers Arnold Böcklin hat Sergej Rachmaninow zu seiner gleichnamigen sinfonischen Dichtung inspiriert. Insgesamt fünf ähnliche Versionen dieses Bildmotivs hat Böcklin zwischen 1880 und 1886 als Ölgemälde erstellt. Aber Sergej Rachmaninow wurde 1907 zunächst durch ein Schwarzweißfoto darauf aufmerksam. "Hätte ich die Originale zuerst gesehen, hätte ich meine 'Toteninsel' vielleicht nicht komponiert", gestand Rachmaninow später einmal. Gerade die düstere Atmosphäre und die Grautöne des Schwarzweißfotos hatten ihn beeindruckt.

Die 1909 entstandene Tondichtung folgt keinem programmatischen Handlungsablauf. Vielmehr ist sie ein klingendes Stimmungsbild, das einige der Bildeindrücke musikalisch einfängt: Im Orchester werden die wogenden Wellen des Meeres angedeutet, aber auch die Trauer und der Schmerz angesichts des Abschieds vom Leben. Zudem zitiert Rachmaninow als Signatur des Todes an mehreren Stellen, besonders eindrücklich in den Bläsern, die Choralformel "Dies Irae" ("Tag des Zorns") aus der gregorianischen Totenmesse. Oft wird Rachmaninows Beschäftigung mit Böcklins "Toteninsel" im Zusammenhang mit seinen depressiven Schüben gesehen. Aber das Gemälde trifft auch das Lebensgefühl einer Epoche im Spannungsfeld zwischen modernen Entwicklungen und als veraltet empfundenen Traditionen. Der erstmals 1886 in Frankreich aufgekommene Epochenbegriff des "Fin de siècle" ("Ende des Jahrhunderts") hat dies auf eine kurze Formel gebracht. Das galt umso mehr für das russische Zarenreich mit seinen verkrusteten Strukturen. Auch ein eher konservativer Künstler wie Rachmaninow dürfte eine Ahnung vom problematischen Gefüge der alten Ordnung gehabt haben.