Komponist Carl Orff
Wenn man die ganze aufrührerische Kraft, den rhythmischen Drive und die vibrierende Körperlichkeit von Orffs "Carmina Burana" erleben will, sollte man mitten im Orchester sitzen. Dann spürt man hautnah die archaische Gewalt der halb jubelnden, halb verzweifelten Chor-Anrufung der launischen Glücksgöttin Fortuna, sitzt mitten im derbsten Saufgelage, bei dem ein gebratener Schwan seine gequälten Melodien singt, erlebt den Paarungsstress der jungen Leute auf dem Dorfplatz, bis zum Exzess angetrieben von zwei Klavieren und Schlagzeug, und die Minne des hohen Paares. All das wurde von Carl Orff unglaublich raffiniert komponiert in einer neuen Einfachheit, die von der Volksmusik und der aktuellen Tanzmusik beeinflusst ist, aber mit der neuen Musik der Zeit, mit Schönberg oder Strawinsky, nicht viel zu tun hat.
Vielleicht war das der Grund, warum die Frankfurter Uraufführung der "Carmina Burana" am 8. Juni 1937 von einigen Blättern zwar wegen ihrer Musik und inhaltlichen Freizügigkeit herb kritisiert wurde, das Werk im NS-Staat aber einen Triumphzug durch die Konzertsäle antreten konnte – und auch nach dem Krieg seine Popularität kaum einbüßte. Der Komponist hat nach 1945 behauptet, dass er mit den "Carmina Burana" ein "nicht linientreues" Werk komponieren wollte – wofür die musikalischen Modernitäten und die Betonung eines ungewissen Schicksals (statt der ideologischen Gewissheit) sprächen. Andererseits ist die Gesellschaft, die Orff in seinen "weltlichen Gesängen" schildert, durchaus bodenständig und volksverbunden – viel mehr jedenfalls als in seinen späten Tragödien nach altgriechischen Vorlagen.
Seine Quelle hatte Orff in einem Antiquariatskatalog entdeckt: die erste Gesamtausgabe der zumeist auf Mittellateinisch verfassten Lieder ("Carmina") und Dramen aus der ehemaligen Bibliothek des Klosters Benediktbeuern (auf das sich das Adjektiv "Burana" bezieht). Interessant bleibt die Frage nach dem Genre der "Carmina Burana", die heute meist konzertant aufgeführt werden, aber auch auf der Bühne oder im Film (vom Opernregisseur Jean-Pierre Ponnelle) zu sehen waren. Kürzlich aufgefundene Skizzen von Orff belegen jedenfalls, dass er sich die "magischen Bilder" im Untertitel als Projektionen vorstellte – vielleicht eine Anregung, die "Carmina Burana" mit moderner Videotechnik einmal neu zu interpretieren.