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New York, 1909. Gustav Mahler (1860-1911) im Stuhl sitzend

Werkeinführung: Gustav Mahler - Sinfonie Nr. 9 D-Dur

Von Kerstin Schüssler-Bach

Eine leise Hoffnung baute auch Gustav Mahler am Ende seines letzten vollendeten Werks auf. Dem Dirigenten Bruno Walter, der im Juni 1912 auch die posthume Uraufführung der 9. Sinfonie leitete, teilte Mahler aus den Sommerferien 1909 in Toblach mit: "Es ist da etwas gesagt, was ich seit längerer Zeit auf den Lippen habe – vielleicht (als Ganzes) am ehesten der 4. an die Seite zu stellen. (Doch ganz anders.)"

Was genau er "auf den Lippen" habe, darüber schwieg Mahler. Und es überrascht, dass er ausgerechnet zur Vierten eine Parallele zieht, ist sie doch seine "heiterste" Sinfonie. Der Neunten dagegen wurde seit jeher eine Nähe zu den Letzten Dingen attestiert. "Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe", orakelte Arnold Schönberg in seiner Gedenkrede auf Mahler: "Wer darüber hinaus will, muss fort" – in Anspielung auf Beethoven, Schubert und Bruckner.

Antizipation des Schreckens?

Auch Mahler also war es nicht vergönnt gewesen, jene magische Grenze zu überschreiten. Indem er aber in seinem Brief an Bruno Walter nicht von Todesgedanken spricht, steht zu vermuten, dass das, was er "auf den Lippen hatte", etwas anderes meinte. Nun rührt der Grundton der Neunten zweifellos an den Abgründen der menschlichen Seele: mit katastrophischen Brüchen, zersplitternden Klangfarben und erschütternden Klagegesängen. Gleich das seufzerartig abfallende Violinthema zu Beginn des ersten Satzes erscheint als erschöpfter Ausruf angesichts irdischer Mühsal. Grell dreinfahrende Militärsignale kündigen manchen Kommentator*innen zufolge das Ende der Alten Welt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs an. Sind es also die "Schlafwandler", die hier in den Untergang taumeln und in den Exzessen der Klanggewalten die Stahlgewitter der Schützengräben antizipieren?

Kurz vor Ende des ersten Satzes geschieht Unerhörtes: Die Stürme haben sich beruhigt, die Hörner singen ein Wiegenlied. Wie ein Totenvogel zieht die Flöte ihre schwebenden Kreise. Und dann tritt im Zwiegesang der sanften Klarinetten und Hörner das schwermütige Seufzermotiv hervor. Der Sterbende ist nicht alleine, er hat ein Echo im Nirgendwo gefunden. Selten wurden die Zwischentöne von Trost und Milde inmitten eines orchestralen Verstummens erschütternder komponiert. So gestand auch Bruno Walter diesem Satz in aller "Abschiedswehmut" doch die "Ahnung des himmlischen Lichts" zu – und bringt die Neunte damit sehr wohl in die Nähe der Vierten und ihrer Auskostung des "himmlischen (Nach-)Lebens".

Tänzerische Hommage an Mozart

Mahler war es wohl nicht daran gelegen, in diesem Werk die Falltür zur Depression zuzuschlagen. Der zweite Satz schlägt dann auch ganz andere Töne an: "Etwas täppisch und sehr derb" poltert ein meckernder Ländler los, der in einen grotesk aufgeblasenen Walzer mündet. Und da hebt es plötzlich wieder an – das aus dem ersten Satz bekannte Seufzermotiv, das sich wie fragend in diesen Bocksprüngen und Trillern umschaut und sich schließlich in den merkwürdigen Tanz einreiht. Steckt darin nicht auch etwas von der "Narrenschelle" der klassizistischen 4. Sinfonie?

Dass Mahler mit der "Rondo-Burleske" einen weiteren Tanzsatz nachschiebt, ist ohne Parallele in seinen Sinfonien. Der Schlüssel könnte auch hier Mahlers eigener Hinweis auf die Vierte und ihre rokokohaften Allusionen sein: eine verborgene Mozart-Hommage als geheimer Gedanke "auf den Lippen" Mahlers scheint möglich. Mozarts tänzerische Vitalität, hier freilich ins Monströse übersteigert, könnte ein Referenzpunkt sein, auf den das Bemühen, die Neunte vor allem als Türöffner zur musikalischen Moderne zu interpretieren, bislang wenig Augenmerk legte. Das Rondo, eine zu Mahlers Zeit völlig obsolete Form, ruht bei Mozart noch in der Geborgenheit einer überschaubaren Welt. Seine leichtfüßige Eleganz war in den Komplexitäten der Moderne nicht mehr möglich – allenfalls in Zitaten wie der Lehár-Anspielung, wie sie Mahler mit dem "Studium der Weiber" in der Rondo-Burleske aufbietet.

"Sie sind uns nur vorausgegangen ... Wir holen sie ein auf jenen Höh’n"

Nach den trotzigen Bocksprüngen der Rondo-Burleske hebt in den Streichern ein unfassbar herrliches Adagio an. Eine Doppelschlagfigur, also ein Umspielen der Hauptnote durch die obere und untere Nebennote, verleiht ihm eine bohrende Intensität.

Zum Ende hin wird der Satz immer zarter und lichter, zerfällt in ersterbende Fragmente. Das Singen kommt an sein Ende. Zum Schluss zitiert Mahler aus seinen eigenen "Kindertotenliedern" – doch nicht vom Sterben ist dort die Rede, sondern von transzendenten Erfahrungen: "Im Sonnenschein! Der Tag ist schön auf jenen Höh’n!" Das Finale wühlt nicht nur im Weltschmerz, sondern hält, wie schon der erste Satz, Trost bereit. Das Selbstzitat aus den "Kindertotenliedern" wird kontrapunktiert: von jener Doppelschlagfigur, die hier in überirdischer Gelassenheit zerdehnt erscheint. "Sie sind uns nur vorausgegangen ... Wir holen sie ein auf jenen Höh’n", lautet das Credo der "Kindertotenlieder".