- Semyon Bychkov leitet das WDR Sinfonieorchester
- Kölner Philharmonie im Juli 2005
- Werkeinführung in Brahms Sinfonie Nr. 1
In puncto Sinfonie war Johannes Brahms ein Spätzünder: bis zum Alter von 43 Jahren ließ er sich mit seinem sinfonischen Erstling Zeit. Für ihn war das Komponieren einer Sinfonie eine "Angelegenheit von Leben und Tod". Denn Beethovens neun Sinfonien hatten der Gattung zu solch hohem Rang und Anspruch verholfen, dass sie im 19. Jahrhundert als höchstes Ziel des Komponierens angesehen wurde. Dieser übermächtige Schatten Beethovens lastete auf allen nachfolgenden Komponist*innen. Für Brahms kam noch erschwerend hinzu, dass Robert Schumann 1853 den gerade mal 20jährigen als neuen musikalischen "Messias" angekündigt hatte. Diese Vorschusslorbeeren beflügelten und lähmten Brahms zugleich. Alle nachfolgenden Versuche, sich der Gattung Sinfon zu stellen, waren von Selbstzweifeln begleitet. So näherte er sich Stück für Stück der prestigeträchtigen Sinfonie über das Schreiben von Serenaden, Kammermusik sowie Musik für Chor und Orchester. Schließlich, nach einer mehr als 20-jährigen Vorbereitungszeit, wurde am 4. November 1876 endlich seine 1. Sinfonie in Karlsruhe uraufgeführt.
In Anknüpfung an die klassische Tradition ersann Brahms eigene gestalterische Mittel. Darunter fällt vor allen Dingen das Prinzip der entwickelnden Variation, d.h. der Herleitung aller wichtigen Motive und Themen aus einem Kerngedanken. Hatte Beethoven hierfür schon den Grundstein gelegt, so geht Brahms wesentlich weiter und überzieht alle Satzteile mit einem dichten Gewebe motivisch-thematischer Beziehungen. Die 1. Sinfonie beginnt mit einer ausgedehnten Einleitung, in der das thematische Material der folgenden Sätze anklingt, darunter die chromatisch sich in die Höhe schraubende Melodie der Violinen, die wie ein verzweifeltes Aufbegehren gegen ein übermächtiges Schicksal erscheint. Brahms entfaltet hier eine unerhörte Spannung, indem er die Streicher gegen die beharrlich hämmernde Pauke (Orgelpunkt auf c) ankämpfen lässt. Nach zwei wenig dramatischen Mittelsätzen bringt Brahms im Finale der Sinfonie eine Alphornweise und ein Marschthema, dem man eine Ähnlichkeit mit Beethovens "Freude"-Hymnus aus der 9. Sinfonie bescheinigt hat. Nach Brahms‘ Aussage kein Wunder, da "das jeder Esel gleich hört!". Also eine bewusste Hommage an Beethoven? Für den renommierten Dirigenten Hans von Bülow jedenfalls war diese Sinfonie von Brahms "Beethovens Zehnte".