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Lili Boulanger

Werkeinführung: Lili Boulanger - D’un matin de printemps

Von Otto Hagedorn

Paris, im Sommer 1913. Lili Boulanger, 19 Jahre jung, vollbringt die Sensation: Als erste Frau gewinnt die Komponistin den "Prix de Rome". Die Jury macht es ihr nicht leicht, dringt Lili doch in eine Männerdomäne ein. Ihr überragendes Können und die Qualität ihrer Kantate "Faust et Hélène" machen es jedoch unumgänglich, ihr den ersten Preis zuzusprechen. Aber wichtiger noch als dieser Triumph ist die individuelle Freude der Komponistin, diese Leistung vollbracht zu haben. Denn Lili Boulanger ist schwer krank. Seit ihrer Kindheit leidet sie an einer chronischen Bronchialpneumonie und an Morbus Crohn. In ihrem leidgeprüften Leben ist es die Musik, die ihr inneren Halt gibt. Kraft schöpft sie auch aus ihrem glücklichen familiären Umfeld. Schon ihr Vater hatte 1835 den Rompreis gewonnen, ihre Mutter war Sängerin. Und ihre sechs Jahre ältere Schwester Nadia, später eine Institution im Musikleben, kümmerte sich rührend um die geschwächte Lili.

Mit dem Prix de Rome verbunden war ein Studienaufenthalt in der Villa Medici in Rom. Trotz ihrer Krankheit tritt Lili Boulanger die Reise an. Doch der Erste Weltkrieg beendet den Aufenthalt: Im Oktober 1914 reist sie wieder nach Paris. Zwar kehrt sie 1916 in die Ewige Stadt zurück, muss wegen ihres geschwächten Zustands Rom aber bald endgültig verlassen. In dieser Zeit wird klar, dass sie nicht mehr lange leben wird. Umso energischer stürzt sie sich in ihre kompositorische Arbeit. Sie schreibt mehrere Stücke für Gesang und Orchester sowie die beiden Instrumentalwerke "D’un matin de printemps" ("An einem Frühlingsmorgen") und "D’un soir triste" ("An einem traurigen Abend"). Ursprünglich als Kammermusik komponiert, hat Boulanger die Stücke auch für Orchester bearbeitet. Beide basieren auf dem gleichen musikalischen Thema, das kaum unterschiedlicher beleuchtet werden könnte: schwermütig in "D’un soir triste", mit viel Lebensmut in "D’un matin de printemps", das am Anfang des heutigen Konzertprogramms steht. Nur zwei Monate, nachdem Lili Boulanger die Arbeit an dieser impressionistischen Orchesterminiatur abgeschlossen hat, erliegt sie mit nur 24 Jahren ihren Erkrankungen.