Jukka-Pekka Saraste

Auf Wiedersehen Jukka-Pekka Saraste - Teil 2

Stand: 03.07.2019, 09:00 Uhr

  • Abschied von Chefdirigent Jukka-Pekka Saraste
  • Rückblick auf neun kreative Jahre
  • "Eine Packung von Erfahrungen und Erinnerungen"

Von Michael Struck-Schloen

Unbeirrbar ist Jukka-Pekka Saraste vor allem dann, wenn es um die Musik seiner Heimat Finnland geht. Der Schlüsselname ist natürlich Jean Sibelius, das tönende Gedächtnis von Suomi. Schon vor seiner Chefdirigentenzeit hat Saraste die vierte Sinfonie und die zwischen Kantate und Tondichtung changierende "Kullervo"- Sinfonie dirigiert. Bis 2018 hat dann das WDR Sinfonieorchester fast alle sieben Sinfonien (mit Ausnahme der dritten), das Violinkonzert, Schauspielmusiken und die meisten sinfonischen Dichtungen von Sibelius gespielt– ein finnisches Spektrum, das es in keinem anderen deutschen Rundfunkorchester gibt.

Der finnische Komponist Jean Sibelius 1915 in seinem Arbeitszimmer

Der finnische Komponist Jean Sibelius

"Das hat sich allmählich so entwickelt", sagt Saraste heute. "Am Anfang wollte ich skandinavische Musik nicht überdosieren, außerdem war das Orchester auf das Gesamtwerk von Sibelius gar nicht vorbereitet – das ist Musik, die man sehr genau durcharbeiten, die man auch fühlen muss. Zuletzt aber gehörte die vierte Sinfonie, die für mich sehr wichtig ist, zu den Sternstunden. Da haben das besondere Spiel und die Erfahrung des WDR Sinfonieorchesters dieser Musik etwas ganz Einmaliges verliehen." Was allerdings nicht nur für ein Hauptwerk wie die vierte Sinfonie zutrifft, sondern auch für ein vermeintliches Salonstück wie die "Valse triste". Als Zugabe nach einer massiven Sinfonie von Brahms oder Tschaikowskij entfaltete der zerbrechliche Walzer von Sibelius mit seinem fiebrig-irrwitzigen Höhepunkt eine unvergessliche Intensität. Und jeder spürte, dass sich Saraste in dieser Musik zuhause fühlt.

"Wo fühlt man sich zuhause?" Für den Dirigenten ist diese Frage eigentlich schon zu persönlich. Aber er hat sich damit abgefunden, dass alle wissen wollen, wie man als Finne aufwächst, was es mit der Naturverbundenheit und der Schweigsamkeit auf sich hat, ob es wirklich dieses fabelhafte Schulniveau gibt, welche Rolle die Musik spielt. In Daniel Finkernagels Filmporträt aus der Zeit von Sarastes Antritt beim WDR scheinen sich die meisten Vorahnungen auf sympathische Art zu bestätigen: Der Dirigent steuert seinen Wagen durch endlose Wälder, lässt den Blick über das Meer schweifen, schwärmt von seiner frühen Begeisterung für Mozart, erinnert sich an den Wechsel vom Geiger beim Finnischen Radio-Sinfonieorchester zum Dirigenten, der heute durch die ganze Welt reist, seinen Hauptwohnsitz in Zürich hat – und dennoch seine Prägung nicht verleugnen kann.

Jukka-Pekka Saraste

'Korvat auki' (Ohren auf!)

Mittlerweile ist Sarastes Verhältnis zur Heimat Finnland distanzierter geworden. Seit einigen Jahren fühlt er sich wie ein Ausländer im eigenen Land und beobachtet eine Art von "gemütlicher Isolierung", in der man auch die Globalisierung und Technisierung wieder kritischer sieht. Das war in den 1980er Jahren, als Saraste seine Dirigentenkarriere begann, noch ganz anders. "Finnland hatte ein starkes Bedürfnis, mit der ganzen Welt zu kommunizieren – auch in der Musik. Ich gehörte damals zu einem Club für zeitgenössische Musik mit dem schönen Namen 'Korvat auki' (Ohren auf!), da haben wir Musik von Schönberg und Boulez, von jungen Finnen wie Esa-Pekka Salonen und Magnus Lindberg gespielt. Auch das Radio-Sinfonieorchester in Helsinki spielt bis heute viel Neue Musik und kombiniert sie mit dem Repertoire. Diese Mischung von Alt und Neu ist für mich die einzige Möglichkeit, zeitgenössische Musik aus dem Ghetto zu holen."

Rote Fäden

Mit dieser Mischung hat Saraste beim WDR immer wieder experimentiert, hat Stücke von Pascal Dusapin, Wolfgang Rihm, Magnus Lindberg oder Thomas Adès aufs Programm gesetzt. Eine echte programmatische Linie ist daraus nicht geworden – die sah der Chefdirigent eher in zwei roten Fäden, die durchaus auf pädagogische Wirkung berechnet waren: in der Orchestermusik von Johannes Brahms und der frühen Moderne von Carl Nielsen bis Arnold Schönberg.

Als "Erziehungsprogramm" fürs Orchester hat Saraste immer wieder die Orchesterwerke von Brahms bezeichnet. "Es ist ungeheuer wichtig, dass sich jedes Orchester mit Beethoven und Brahms auseinandersetzt. Das ist, besonders für die Streicher, eine Art Fundament, und ich habe immer gesagt: Wenn wir damit Erfolg haben, dann kann man auch alles andere spielen." Brahms’ vier Sinfonien und die Solokonzerte für Klavier und Violine haben daher alle Spielzeiten des WDR Sinfonieorchesters durchzogen; sie waren oft der Kern der Tourneeprogramme in Salzburg, im Baltikum oder bei den großen Konzerteisen nach China in den Jahren 2015 und 2018.

Mit diesem Akzent auf der romantischen Orchesterkultur, die mit Werken von Bruckner, Tschaikowskij oder Rachmaninow zusätzlich ausgeschliffen wurde, hat Jukka-Pekka Saraste deutlich gemacht, dass für ihn der Zuschnitt des Orchesterapparats aus dem 19. Jahrhundert nicht infrage steht. Hier sieht er auch die Grundlage für die zweite markante Programmlinie seiner Chefdirigentenzeit beim WDR: die frühe Moderne von 1900 bis zum Zweiten Weltkrieg. Werke wie die frühe sinfonische Dichtung "Pelleas und Melisande" und das Klavierkonzert von Arnold Schönberg, wie Béla Bartóks "Konzert für Orchester" oder Igor Strawinskijs "Le chant du rossignol" sind ohne die romantischen Vorbilder nicht denkbar – ganz zu schweigen vom Dänen Carl Nielsen, mit dessen Sinfonien Nr. 2, 4 und 5 Saraste in Köln neben Sibelius die skandinavische Karte gespielt hat.

Nie der Showeffekt im Vordergrund

Jukka-Pekka Saraste Abschied

Akzent auf der romantischen Orchesterkultur

Die Herausforderungen dieses Repertoires fürs Orchester liegen in der gesteigerten Farbigkeit, der solistischen Virtuosität und größeren Beweglichkeit – Momente, die Saraste immer in eine glasklare Architektur eingefügt hat, so dass nie der Showeffekt im Vordergrund stand. Vielleicht erklärt sich damit auch die einzige wirkliche Lücke im Repertoire des Chefdirigenten: die großen Tondichtungen von Richard Strauss, die Saraste mit trotziger Konsequenz ausgespart hat (vertreten war Strauss nur mit zwei Alterswerken: den "Vier letzten Liedern" und dem zweiten Hornkonzert). Das mag auch damit zusammenhängen, dass Saraste der eher illustrativen Ton-Bild-Sprache von Strauss die epische Eindringlichkeit eines Sibelius, Mahler oder Schostakowitsch vorzieht. Dabei verstand sich die Vorliebe für Schostakowitsch – dirigiert hat er in Köln die Sinfonien Nr. 4 und 8 bis 11 – in seinen prägenden finnischen Jahren keineswegs von selbst: "Bis zum Ende des Kalten Krieges war Schostakowitsch als sowjetischer Staatskomponist ziemlich verpönt, vor allem bei den jungen Komponisten. Aber dann wurde er plötzlich populär, Esa-Pekka Salonen dirigiert ihn heute viel, und auch Magnus Lindberg liebt ihn sehr."

Der frühen Moderne galten übrigens auch Sarastes gelegentliche Ausflüge ins Opernfach. Igor Strawinskijs "Oedipus Rex", Arnold Schönbergs Monodram "Erwartung" und Béla Bartóks Einakter "Herzog Blaubarts Burg" – das sind Bühnenwerke, die sich dem prallen Musiktheater in der Nachfolge von Wagner, Strauss oder Puccini klar entziehen. Die Psychoanalyse und das surreale Kopftheater bestimmen die Form bei Schönberg und Bartók, während Strawinskij die antike Tragödie vom schicksalhaft schuldigen Ödipus in oratorische Distanz rückt – ein Ansatz, der dem Dirigenten zweifellos liegt.

Gespielte Komponisten unter Jukka-Pekka Saraste

Komponisten-Cluster nach neun Jahren: je größer, desto häufiger

Der ganzheitliche Blick

So blickt Saraste vor seinem Abschiedskonzert am 5. Juli 2019 auf eine "Packung von Erfahrungen und Erinnerungen" aus neun Jahren zurück, die ihn und das Orchester zusammengeschweißt und verändert haben. Nicht immer fiel es dem Dirigenten leicht, im komplexen Organisationsgefüge des Rundfunks den Überblick über alle Abteilungen zu behalten, die mit der Leitung, der Programmauswahl und Reiseplanung, dem Marketing, dem Finanzmanagement, den Sendungen und der Verbreitung im Internet betraut sind. "Das ist bei einem großen Haus wie dem WDR eine echte Herausforderung – vor allem in unseren Zeiten, in denen sich die Kommunikation so rasant entwickelt. Trotzdem ist es für mich als Chefdirigent wichtig, einen ganzheitlichen Blick zu behalten auf alles, was die Musiker betrifft."

63 Jahre alt ist der Mann aus Heinola in Südfinnland – die meisten Arbeitnehmer*innen denken da schon an ihre Rente. Für Dirigent*innen, die gewöhnlich ein langes Leben erwartet, ist das ein Alter, um durchzustarten, wenn auch nicht unbedingt in eine neue Festanstellung. Da wartet Jukka-Pekka Saraste lieber einmal ab. Über einen leeren Terminkalender kann er sich ohnehin nicht beklagen, neben Konzerten wird er demnächst auch Oper an einem großen Haus dirigieren. Und er gibt seine Erfahrungen weiter an hochtalentierte Jungdirigent*innen, die am Beginn ihrer Karriere stehen.

Jukka Pekka Saraste

Ganzheitlicher Blick auf die Musikerexistenz

"Lead!" heißt das Projekt, das ihnen helfen soll, die richtigen Schritte einzuleiten und nicht vorzeitig in die Mühlen des Konzertbetriebs zu geraten. "Wir haben beobachtet, dass junge Musikerinnen und Musiker nicht mehr so viel Interesse an einer 'Leadership', also einer leitenden Funktion im Orchester haben. Ich wurde als junger Geiger immer unterstützt von älteren Kollegen, da fiel es leichter, in eine Führungsaufgabe hineinzuwachsen. Auch als Dirigent braucht man viele Tipps, wie man seine Laufbahn startet: Was mache ich zuerst, wie probe ich, welches Repertoire baue ich mir auf und so weiter. Es gibt die große Gefahr, dass die Agenturen ein junges Talent erst annehmen und dann später alleinlassen. Deshalb arbeiten wir bei unserem Projekt mit musikalischen Mentoren, aber auch mit Karrierecoachs und gehen auf Festivals oder an Konservatorien, um einen ganzheitlichen Blick auf die Musikerexistenz zu geben."

Wieder benutzt Saraste das Wort "holistic – ganzheitlich", das für ihn so zentral ist. Denn in einer Welt der zersplitternden Existenzen und Wahrnehmungen ist die Kunst vielleicht eine der letzten Zonen, in denen der Mensch sich nicht als Teilstück, sondern in seiner Ganzheit erkennt und erlebt.