"In Deutschland muss niemand auf der Straße schlafen." Den Satz oder zumindest einen sehr ähnlichen dürften viele schon einmal gehört haben. Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe in Berlin, ist schon lange nicht mehr davon überzeugt, dass er stimmt.
Zahl der Obdachlosen bundesweit auf 45.000 geschätzt
"Ich glaube das nicht. Letztlich kann das auch keiner nachprüfen", sagt Rosenke im Gespräch mit dem WDR. Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft zufolge gab es im Jahr 2020 rund 45.000 Obdachlose in Deutschland. Ihrer Ansicht nach dürfte es im Jahr 2022 ähnlich aussehen. Ihr 1954 in NRW gegründeter Verein koordiniert die Arbeit von 1.200 Mitgliedern, darunter die Diakonie und die Caritas. Beide Wohlfahrtsverbände betreiben viele Unterkünfte für Obdachlose.
Zuverlässig erfasst würden Obdachlose nicht. Um ein etwas genaueres Bild zu haben, hatte die Landesregierung eine Studie in Auftrag gegeben, welche die Zahl der Obdachlosen in NRW im April auf 5.300 schätzte - das war mehr als dreimal so viel wie in der aktuellsten Landesstatistik von 2020 verzeichnet.
Notunterkünfte schrecken viele Obdachlose ab
Die Zahl der Notschlafplätze, die man anbieten müsste - dazu sind Städte und Kommunen verpflichtet -, liegt also im Ungefähren. Es gibt viele Gründe, warum Obdachlose den Weg in die Notunterkunft scheuen. Holger Brandenburg, Gründer und Vorsitzender des Vereins "Unsichtbar" in NRW, kennt die meisten.
Dass einige die Straße Notunterkünften vorziehen, könne viele Gründe haben, sagen Brandenburg und Rosenke unisono: Angst in Räumen zu liegen, Angst beklaut zu werden, ein Hund, der nicht mit in die Unterkunft darf, oder eine Sucht, mit der man gar nicht in die Heime rein dürfe. Rosenke ergänzt noch, dass auch Corona und die Angst vor Ansteckung in diesen Unterkünften eine Rolle spielen.
Trotzdem seien die Unterkunftsheime zur jetzigen Zeit "definitiv alle sehr voll", so Brandenburg. Jenen, die nicht in einer Unterkunft übernachten, hilft sein Verein unter anderem in Ennepetal, Wuppertal und Hagen, wo die Helfer von "Unsichtbar" nachts unterwegs sind und Gespräche, warme Suppen und Kaffee oder auch wintertaugliche Schlafsäcke anbieten.
Energiekrise schürt Angst vor Wohnungslosigkeit
Bei diesen Touren zwischen 21 und 5 Uhr treffen sie auf immer mehr Menschen, berichtet Brandenburg: "Es werden immer, immer mehr. Aber das ist nicht erst seit der Energiekrise, das ist seit Corona. Wir werden in Zukunft einen deutlichen Anstieg an Obdachlosigkeit haben. Da bin ich fest von überzeugt."
Rosenke hat dagegen während Corona sogar eine kurzfristige Verbesserung festgestellt, als Obdachlose zwischenzeitlich in Hotels oder Jugendherbergen untergebracht wurden, sagt aber, dass die "Standards wieder ähnlich schlecht wie vor der Corona-Zeit" seien. Die Energiekrise habe zudem für einen Ansturm auf die Beratungsstellen gesorgt. Die Sorge, die Wohnung zu verlieren, weil man die Kosten nicht mehr stemmen könne, sei bei vielen Menschen sehr groß.
Land NRW verdoppelt Kältehilfen
Dass das Problem der Obdachlosigkeit in NRW bereits größer sein könnte, lassen die von der Landesregierung zur Verfügung gestellten Hilfsmittel für die mehr als 100 freien Träger und Initiativen der Wohnungslosenhilfe in Nordrhein-Westfalen befürchten. Die finanzielle Unterstützung wurde mehr als verdoppelt.
Die Landesregierung teilte am Freitag mit, dass sie im Rahmen der Landesinitiative gegen Wohnungslosigkeit "Endlich ein ZUHAUSE!" in diesem Winter insgesamt 850.000 Euro zur Verfügung stelle. Im vergangenen Winter betrugen die Mittel für die Kältehilfen im Vergleich dazu lediglich 400.000 Euro.