50 Jahre Guillaume-Affäre: Über den Jahrhundertpolitiker Willy Brandt

Stand: 24.04.2024, 06:00 Uhr

Vor 50 Jahren wurde in Bonn der DDR-Spion Günter Guillaume verhaftet. Er war persönlicher Referent von Kanzler Willy Brandt, der kurz darauf zurücktrat. Die Historikerin Kristina Meyer über die Bedeutung der Spionage-Affäre und darüber, was Brandt als Politiker besonders machte.

1974 kommt es zur größten Spionageaffäre im Bundeskanzleramt. Günter Guillaume, persönlicher Referent von Bundeskanzler Willy Brandt, wird am 24. April in Bonn verhaftet. Zwei Wochen später tritt Brandt zurück.

Die Mini-Serie "WILLY - Verrat am Kanzler" rekonstruiert die Affäre - ein True Crime-Thiller voller Geheimnisse, Lügen und Verrat. Erzählt von Expertinnen wie der Vertrauten Brandts & Journalistin Heli Ihlefeld, der DDR-Spionin Lilli Pöttrich, der Autorin & Journalistin Yasmine M’Barek, der Journalistin Eva-Maria Lemke und der Bestsellerautorin Katja Hoyer. Ab heute ist sie in der ARD-Mediathek abrufbar.

Was war eigentlich so besonders am Kanzler Willy Brandt? Welche Folgen hatte der Spionage-Skandal? Ein Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Kristina Meyer.

WDR.de: Wenn wir über Willy Brandt reden, fällt oft das Wort "Jahrhundertpolitiker". Warum eigentlich? Seine Kanzlerschaft war ja eher kurz und endete – zumindest auf den ersten Blick - eher unrühmlich.

Kristina Meyer: Er hatte eine ganz bemerkenswerte Biographie, die ihn von der Mehrzahl der anderen Politiker der Nachkriegszeit unterschied. Er war im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv gewesen und hatte Deutschland 1933 verlassen. Als er aus dem Exil zurückkehrte, war er zunächst ein völliger Außenseiter in der postnationalsozialistischen deutschen Gesellschaft.

Historikerin Kristine Meyer forscht für die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin. | Bildquelle: privat/Dirk Bleicker

Er war einer der wenigen, die Widerstand geleistet hatten. Die Wahl eines solchen Mannes zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler 1969 war eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Quasi unsterblich hat er sich dann mit seiner Neuen Ostpolitik gemacht.

Die ganzen 60er Jahre waren schon von Aufbruch, Generationenwechsel und Liberalisierung geprägt. Die Adenauer-Ära erschien zunehmend muffig und aus der Zeit gefallen. Vor allem für die junge Generation. Außerdem war Brandt ein sehr einnehmender und charismatischer Politiker. Es ist ihm gelungen, die SPD nicht nur für die klassische Kernwählerschaft, die Arbeiterschaft, sondern auch für viel breitere Teilen der Gesellschaft wählbar zu machen. Die SPD verkörperte damals Modernität und neue Aufstiegsmöglichkeiten.

WDR.de: Es war auch die Zeit der Studentenrevolte. Viele junge Leute rebellierten damals gegen die etablierte Politik. Wie hat Brandt die jungen Menschen überzeugt?

Kristina Meyer: Brandt ist es gelungen, eine Brücke zwischen den Generationen zu schlagen. Er hat den jungen Leuten eine neue Zukunftsperspektive gegeben, die fundamental mit seinem wichtigen Satz "Wir wollen mehr Demokratie wagen" verknüpft ist. Die Demokratie musste sich ja in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende und nach Gründung der Bundesrepublik erst einmal in den Köpfen der Menschen etablieren, akzeptiert werden. Und dazu zählte eben auch die Teilhabe jedes Einzelnen an der Demokratie, das Mitbestimmen, das Sich-einmischen in politische Diskurse - das, was man heute als Selbstwirksamkeit bezeichnet.

Charismatischer Redner: Willy Brandt beim Arbeitnehmerempfang der SPD Essen 1960 in der Grugahalle. | Bildquelle: WDR / WDR Digit / benno justfelder

Vor der Ära Brandt war Politik für viele Menschen etwas, was sozusagen "da oben" in Bonn gemacht wird. Aber dass man sich wirkungsvoll in Parteien und neuen sozialen Bewegungen engagieren kann, das hat Willy Brandt mit der Art der Ansprache an die Jugend unglaublich befördert. Er war aber nicht jemand, der sich in künstlicher Weise in seinem Duktus anpasste, um sich anzubiedern. Es war eher sein Charisma und seine besondere Geschichte von Widerstand und Exil, die ihn für die damals junge Generation so faszinierend und überzeugend machte.

WDR.de: Dann wird 1974 bekannt, dass mit Günter Guillaume seit Jahren ein DDR-Spion im Bundeskanzleramt sitzt. Dieser Agenten-Skandal bringt den Kanzler zu Fall. Hat ihm sein Rücktritt im Nachhinein eigentlich wirklich geschadet oder ihn mit Abstand betrachtet noch glaubwürdiger gemacht?

Kristina Meyer: Viele empfanden seinen Rücktritt als Ausdruck von Würde und Anstand. Der allgemeine Tenor war: Der Kanzler übernimmt die politische Verantwortung für etwas, das er selbst nicht zu verantworten hatte. Als Brandt das erste Mal vom Verdacht gegen Guillaume erfuhr, ist er dem Rat des Bundesverfassungsschutzes gefolgt, Guillaume auf seinem Posten zu belassen und ihn in Sicherheit zu wiegen, um besser gegen ihn ermitteln zu können.

Dass es dann zum Rücktritt kam, war für Brandt natürlich ein herber Schlag, aber sein öffentliches Ansehen hat nicht nachhaltig darunter gelitten. Er blieb ja noch viele Jahre SPD-Vorsitzender, und seine politische Karriere ging unter anderen Vorzeichen weiter. In der späten Phase seines politischen Wirkens war er vor allem ein angesehener "elder statesman" auf internationaler Bühne.

WDR.de: Warum gibt es solche Ausnahmepolitiker heute anscheinend so gut wie nicht mehr?

Kristina Meyer: Eine Erklärung dafür könnte sein, dass der Weg in die politische Verantwortung heute tendenziell ein anderer ist als in der Nachkriegszeit. Die Leute kommen weniger durch ihr besonderes Charisma, durch ihre herausragenden intellektuellen Qualitäten oder rhetorische Fähigkeiten in die Politik, sondern es ist oft eher eine Berufswahl, die dann über viele Karrierestufen nach oben führt.

Da steckt auch viel Mythos und Verklärung drin.

Aber auch die politische Kommunikation ist eine andere heute. Wenn man sich heute Originalaufnahmen aus den 50er und 60er Jahren anschaut von Politikern, die gerade aus einer Bundestagssitzung kommen, dann redeten die Leute damals viel mehr "frei Schnauze" in die Mikrofone - nicht wie heute, rhetorisch wohl überlegt, verpackt in abgesicherte Worthülsen, mit Formulierungen, mit denen man möglichst wenig preisgeben und zugleich nicht anecken möchte.

Aber es ist natürlich heute sehr einfach, aus einer nostalgischen Perspektive darauf zu schauen, was wir mal für tolle Politiker hatten – da steckt auch viel Mythos und Verklärung drin.

Was Politiker heute von ihm lernen könnten: mehr Ehrlichkeit, Transparenz und Mut zu großen politischen Veränderungen.

Willy Brandt und die "Guillaume-Affäre" WDR 5 Morgenecho - Interview 24.04.2024 06:30 Min. Verfügbar bis 24.04.2025 WDR 5

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Die Fragen stellte Katja Goebel.

Kristina Meyer ist Politikwissenschaftlerin und forscht für die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung in Berlin. Sie promovierte mit einer Arbeit über "Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1974" und wurde 2015 mit dem Willy-Brandt-Preis für Zeitgeschichte ausgezeichnet.

Die Spionage-Affäre um Willy Brandt und der 50. Jahrestag der Festnahme von Günter Guillaume ist am 24. April 2024 auch Thema in der Aktuellen Stunde im WDR-Fernsehen.