Oerlinghausen zur Nazi-Zeit: Ehrenamtler und Forschende arbeiten zusammen

Stand: 18.11.2022, 20:28 Uhr

Zehn Kommunen aus ganz Deutschland haben ihre Rolle in der Zeit von 1933 bis 1945 neu untersucht. Darunter auch Oerlinghausen im Kreis Lippe als einzige in Nordrhein-Westfalen.

Hier haben sich die Einwohnerinnern und Einwohner so intensiv engagiert, dass sie jetzt bundesweit als erste Kommune eine Ausstellung präsentieren können. Die NS-Geschichte einer Kommune aus Sicht der heutigen Bevölkerung, wissenschaftlich begleitet von einer Universität: so eine Art der Zusammenarbeit gab es noch nie, sagen die Beteiligten.

Osterwünsche mit Stahlhelm und Hakenkreuz

Der Osterhase grüßt auf einer Postkarte mit Hakenkreuz und Stahlhelm, im Gästebuch des örtlichen Freilichtmuseums haben sich NS-Größen verewigt, das Schild einer Ausgabestelle für Bekleidung, Ausrüstung und Abzeichen zeigt deutliche Einschusslöcher: zahlreiche Reliquien haben Menschen aus Oerlinghausen in den letzten Monaten ihren Häusern gefunden, in Kellern und auf Speichern.

Jetzt sind die teils kuriosen Fundstücke im Bürgerhaus zu sehen. Ehrenamtliche Forscher wie Christian Stüber haben die Einwohnerinnen und Einwohner dazu gebracht, nach Erinnerungen an den Nationalsozialismus zu suchen.

Feuerwehrmann als Projektleiter

Die Idee hatten Historikerinnen und Historiker, umgesetzt haben sie die Bürgerinnen und Bürger. Christian Stüber aus Oerlinghausen, Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr, war sofort bereit, die NS-Zeit seiner Heimatstadt zu erforschen.

Erst sollte es nur um die Geschichte der Feuerwehr gehen, am Ende waren es zahlreiche Themenbereiche, etwa Nationalsozialismus im Alltag, das jüdische Leben oder die letzten Kriegstage. Projektleiter Stüber hat rund 20 weitere ehrenamtliche Mitstreiterinnen und Mitstreiter gefunden, die Materialien gesammelt und Interviews geführt haben und in Archive gefahren sind.

Der Historiker Clemens Tangerding von der Universität Gießen hat sie dabei beraten und wissenschaftliche Recherchen übernommen. Er sagt: „Es ist eine ungewöhnlich hohe Beteiligung in dem Ort gewesen, deswegen haben wir das jetzt geschafft innerhalb wirklich kurzer Zeit so eine Ausstellung auf die Beine zu stellen, nicht nur mit Tafeln, sondern mit wirklich unzähligen Ausstellungsstücken, und einer Hörstation, das war schon besonders hier in Oerlinghausen.“

Kriegerdenkmal polarisiert bis heute

Eines der Themen ist das Kriegerdenkmal auf dem sogenannten Tönsberg in Oerlinghausen. 1930 für die Gefallenen des ersten Weltkriegs erbaut, polarisiert es bis heute, nicht zuletzt wegen der umstrittenen Inschriften, in denen fälschlicherweise behauptet wird, die Deutschen seien 1918 nicht besiegt worden.

Das Ehrenmal habe bei der Arbeit an der Ausstellung zur NS-Geschichte die meisten Emotionen hervorgerufen, erzählt Historiker Tangerding, sowohl auf Seiten derer, die es bewahren wollten, als auch auf Seiten derjenigen, die das so nicht mehr haben wollten, weil Neonazis das Denkmal zu einer Pilgerstätte erkoren hätten.

In der Ausstellung können und sollen Besucherinnen und Besucher selbst schriftlich ihre Meinung dazu kundtun.

„Als wir nach vier Tagen aus dem Keller rauskamen, war für uns der Krieg vorbei“

Die Ausstellung befasst sich auch mit den letzten Kriegstagen in Oerlinghausen. Der 85jährige Bernhard Wintzer ist ein wichtiger Zeitzeuge. Als Siebenjähriger verbrachte er zusammen mit seiner Familie und vielen anderen Menschen vier Tage in einem Keller, während draußen gekämpft wurde.

Nachdem er heute noch einmal die Stufen hinabgestiegen ist, erzählt er: „Wenn wir jetzt daran denken, dass das Licht da aus ist, dann wissen Sie, wie dunkel das hier unten drin war, dass wir hier mit 40 Leuten gesessen haben, kann man heute nicht richtig nachvollziehen, aber es ging, und wir haben es alle überstanden, und als wir rauskamen, war das schönste Frühlingswetter, die Sonne schien, und für uns war der Krieg vorbei.“

Großer Schatz an Materialien

Bernhard Wintzers Erinnerungen und die weiterer Zeitzeugen sind in die Ausstellung eingeflossen, in Form von Zitaten und aufgezeichneten Interviews.

Vitrine mit Ausstellungsstücken. Man sieht Bücher und ein Abzeichen | Bildquelle: WDR / Arndt Möller

Es ist so viel Material zusammengekommen, dass maximal fünf Prozent davon gezeigt werden können, erklärt Historiker Clemens Tangerding: „Wir hinterlassen jetzt einen großen Schatz an Materialien, und jetzt ist die Frage, wie man damit umgeht, und ich bin selber gespannt, wie sich die Oerlinghauser und Oerlinghausenerinnen entscheiden, was sie denn jetzt damit machen.“

Diese Entscheidung müssen sie aber erst nach dem 4. Dezember treffen. Bis dahin ist die Ausstellung "Oerlinghausen im Nationalsozialismus" im Bürgerhaus zu sehen.

Wir berichteten über dieses Thema am 18.11.2022 in der Lokalzeit OWL im WDR Fernsehen.