Die einzige unabhängige Studie in Deutschland zur Polizeigewalt wird heute veröffentlicht. Innenministerium, Polizei und auch die Gewerkschaften hatten keinen Einfluss auf das Ergebnis. Erarbeitet haben die neue Studie Wissenschaftler der Uni Bochum, von denen einige inzwischen an der Uni Frankfurt lehren.
Ihre Basis war eine Betroffenenbefragung mit mehr als 3.300 Teilnehmenden sowie über 60 qualitative Interviews mit Polizisten und Polizistinnen, Richtern und Richterinnen, Staatsanwälten, Opferberatungsstellen und Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen. Die Studie ist nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Der WDR hat mit Tobias Singelnstein gesprochen, der an der Studie mitgearbeitet hat.
WDR: Was hat Sie bei den Forschungsergebnissen überrascht?
Singelnstein: Zwei Dinge haben uns am meisten überrascht. Erstens: Es gab schon die These anhand des Forschungsstands, dass es für Betroffene von übermäßiger polizeilicher Gewaltausübung schwierig ist, sich in einer rechtlichen Aufarbeitung durchzusetzen. Aber wie vehement das ist, war schon frappierend. Die Betroffenen haben in Strafverfahren oft wirklich kaum eine Chance, ihre Perspektive auf das Geschehen zur Geltung zu bringen.
Und auf der anderen Seite fand ich sehr interessant, wie gering das Problembewusstsein in der Polizei und in der Staatsanwaltschaft dafür ist. Etwa dazu, dass es problematisch sein kann, wenn die Ermittlungen gegen Polizist:innen von deren Kolleg:innen geführt werden.
WDR: Wie erklären Sie sich ihren Befund, dass Opfer von Polizeigewalt chancenlos sind?
Singelnstein: Wir sehen in unserem Material, dass die Staatsanwaltschaft an Verfahren wegen Körperverletzung im Amt oft mit einer gewissen Vorannahme herangeht, dass die Anzeigen in der Regel unberechtigt sind, das polizeiliches Handeln also in Ordnung gewesen sein wird.
Es ist die erste Studie dieser Art in Deutschland. Und unser Eindruck, als wir die Daten ausgewertet haben, war: Die Schwelle für ernsthafte Ermittlungen und eine Anklageerhebung gegen Polizist:innen ist deutlich höher als in anderen Strafverfahren.
WDR: Das sind ihre Ergebnisse aus den Interviews, beispielsweise mit Staatsanwälten. Gibt es dazu auch Zahlen?
Singelnstein: Ja, Strafverfahren gegen Polizeibeamt:innen wegen rechtswidriger Gewaltausübung werden sehr häufig eingestellt, und es wird nur äußerst selten Anklage erhoben. Nur ungefähr zwei Prozent der Verdachtsfälle, in denen ein Strafverfahren eingeleitet wird, kommen am Ende vor Gericht.
Das ist ungewöhnlich wenig, denn im Durchschnitt landen 22 Prozent aller Verfahren vor Gericht. Diese Chancenlosigkeit ist auch einer der Hauptgründe, warum nur ein geringer Teil der Betroffenen überhaupt Anzeige erstattet.
WDR: Hat die deutsche Polizei denn grundsätzlich ein Problem mit Gewalt?
Singelnstein: Die Polizei wird ja von der Gesellschaft beauftragt, in bestimmten Situationen Gewalt einzusetzen, allerdings nur, wenn es nicht anders geht. Wir sehen aber in der Forschung, dass es eine gewisse Normalisierung dieser Gewalt in der Polizei gibt.
Dem stärker entgegen zu wirken und eine Kultur zu schaffen, dass Gewaltausübung, egal übrigens ob sie rechtmäßig oder rechtswidrig erfolgt, immer eine problematische Angelegenheit ist, scheint angesichts unserer Befunde wichtig.
WDR: Sie haben Ihre Befragungen auch auf den Aspekt Rassismus bei der Polizei hin ausgewertet. Hat die deutsche Polizei ein Problem mit Rassismus?
Singelnstein: Es ist schon historisch so, dass die Polizei immer dafür zuständig war, "die Fremden" oder fremd gelesene Personen zu kontrollieren, etwa bei Grenzkontrollen. Außerdem gibt es tradierte Wissensbestände in der Polizei, dass bestimmte Taten von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen in besonderer Weise begangen werden.
In diesem Wissen mischen sich berufliche Erfahrungen mit Vorurteilen und Stereotypen, die zu Pauschalisierungen führen können. Im Fall von sogenannten verdachtsunabhängigen Kontrollen - etwa an Orten, die von der Polizei als Brennpunkte eingestuft sind – kann das dazu führen, dass Menschen, die ein bestimmtes Aussehen haben, besonders häufig kontrolliert werden. Dafür müssen die einzelnen Beamt:innen gar keine rassistischen Einstellungen haben.
WDR: Was bedeutet das für die Bürgerinnen und Bürger, die davon betroffen sind?
Singelnstein: Menschen, die als fremd gelesen werden und häufiger in Polizeikontrollen geraten, erleben das als sehr drastisch. Sie beschreiben es auch als Gewalterfahrung, als sehr demütigend, weil sie damit in der Öffentlichkeit als gefährlich etikettiert werden. Sie beschreiben das starke Gefühl, ausgeschlossen zu werden und nicht dazuzugehören.
WDR: Was könnte die Politik tun?
Singelnstein: Ein Weg wäre deutlich mehr rassismuskritische, diskriminierungssensible Aus- und Fortbildung für alle Beamt:innen. Und daneben gibt es so konkrete Instrumente wie Kontroll-Quittungen. Immer dann, wenn die Beamt:innen jemanden kontrollieren, händigen sie am Ende einen kurzen Beleg dafür aus.
So haben die Betroffenen die Möglichkeit zu dokumentieren, wie häufig sie kontrolliert werden. Und für die Beamt:innen bringt es die Notwendigkeit mit sich, noch einmal zu reflektieren, warum sie die Person kontrolliert haben.
WDR: Ganz generell fordern Sie in der Studie eine unabhängige Instanz, die die Polizei kontrolliert. Auf diese Forderung reagieren die großen Polizeigewerkschaften immer noch mit Argwohn und sagen, die polizeiinterne Kontrolle und die der Staatsanwaltschaft und Gerichte reiche aus. Was sagt Ihre Forschung?
Singelnstein: Unsere Forschung zeigt deutlich, dass die bestehenden Kontrollmechanismen nicht gut funktionieren. Die Polizei ist aber eine große, mächtige Organisation, der wir als Gesellschaft sehr weitgehende Befugnisse übertragen. Und im demokratischen Rechtsstaat ist es deshalb selbstverständlich, dass so eine Organisation auch einer besonderen Kontrolle unterstehen muss.
Beispielsweise bei der Frage: "Wer führt eigentlich die Ermittlungen in Strafverfahren gegen Polizeibeamt:innen?". Das machen in allen Bundesländern eben immer noch Polizist:innen. Warum schafft man nicht eine eigene Behörde, die für diese Ermittlungen zuständig ist? So, wie die Finanzbehörde bei Steuerdelikten die Ermittlungen führt und nicht die Polizei.