Schotten dicht: Warum viele Menschen keine Nachrichten mehr konsumieren
Stand: 16.06.2023, 17:29 Uhr
Immer mehr Menschen wollen keine Nachrichten mehr hören oder lesen - vor allem keine negativen. Das belegt der jährliche "Digital Newsreport". Was aber tun gegen diese "Nachrichtenmüdigkeit", wenn die Weltlage nunmal ist, wie sie ist?
Von Nina Magoley
Coronapandemie, Krieg in der Ukraine, der Klimawandel und seine immer krasseren Auswirkungen - die Zeiten sind härter geworden, bedrückende Themen beherrschen derzeit die Nachrichten. Auch für die Medien, die täglich über diese aktuellen Ereignisse berichten, sind die Zeiten härter geworden. Das zeigt der "Digital Newsreport 2023", der jährlich vom Reuters Institute for the Study of Journalism herausgegeben wird.
Demnach haben in Deutschland nur noch die Hälfte aller befragten Erwachsenen "großes Interesse" an Nachrichten. Deutlich gestiegen ist die Zahl der Menschen, die sogar versuchen, Nachrichten gar nicht erst mitzubekommen: Jeder zehnte vermeidet es "oft", Nachrichten zu konsumieren, zwei Drittel versuchen "öfter", den Nachrichten aus dem Weg zu gehen. Vor allem negativ behafteten Themen - allen voran solchen über den Krieg in der Ukraine.
Viele Meinungen beim Podcast 0630
Beim WDR Podcast 0630 liefen zu dem Thema am Freitagmorgen die Leitungen heiß: Hörerin Jule erklärte, dass sie vor allem Nachrichten rund um den Klimawandel bald nicht mehr aushalte. Es sei "einfach zu krass", wie wenig die Politik sich engagiere. Hörer Sascha hatte schon die Berichterstattung über Corona heruntergezogen, jetzt der Krieg in der Ukraine: "Das hat mich nicht nur runtergezogen, das hat mich wirklich negativ beeinflusst." Er habe deshalb viele Kanäle komplett eingestellt.
Nachrichten seien Teil ihres Jobs, sagt dagegen Hörerin Deborah, mittlerweile könne sie sich innerlich ausreichend distanzieren. Es gebe ihr "ein gewisses Gefühl von Kontrolle, dass es nichts gibt, was an mir voll vorbeigegangen ist". Hörerin Svenja bezeichnet den Konsum von Nachrichten sogar als Bürgerpflicht. "Man muss sich schon selber schützen", sagt sie, wichtig sei die bewusste Auswahl der Nachrichten. So hat Nora auf Instagram alle Newsseiten, die nicht nur Positives berichten, entfolgt. Die hätten ihre mentale Gesundheit definitiv beeinflusst.
Krisennachrichten wecken Urängste
"Lasst mich in Ruhe!"
Bei vielen Menschen würden diese Nachrichten Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle auslösen, die zu Stress und Angst führen, sagt die Kölner Psychotherapeutin Julie Forlorou. Auch Stefan Brandenburg, Chef des WDR Newsrooms, sieht hier eine Ursache für die wachsende Nachrichtenmüdigkeit: "Diese großen Krisen der vergangene Jahre haben etwas mit Menschen gemacht", sagt er, "haben sie zurückgelassen mit einer intellektuellen Überforderung, das alles zu sortieren. Aber auch mit einer seelischen Überforderung." Dabei seien Urängste geweckt worden, auf die viele mit Abwehr reagieren würden: "Ich kann's nicht mehr hören, lasst mich damit in Ruhe."
Immerhin: Geht es um positive Themen oder solche, bei denen sich ein positiver Ansatz erkennen lässt, sind mehr als die Hälfte der für die Studie Befragten "äußerst oder sehr" interessiert.
Junge Menschen ziehen sich besonders zurück
In ihrer Praxis, sagt Forlorou, säßen häufig junge Menschen, die sich von den derzeitigen Krisen überfordert fühlten. Tatsächlich zeigt auch der Digital Newsreport, dass die Nachrichtenmüdigkeit beim jüngeren Publikum offenbar besonders groß ist: Unter den Befragten bis Mitte Dreißig bezeichnet sich weniger als ein Drittel als "äußerst oder sehr" an den täglichen Nachrichten interessiert. Bei den Ü-55-Jährigen sind es immerhin rund drei Viertel.
Die Jüngeren seien durch die Flut an negativen Nachrichten überlastet, "die machen die Schotten dicht", so Forlorou. Sie sieht dabei einen direkten Zusammenhang mit den Sozialen Medien, die mittlerweile eine große Rolle bei der Verbreitung und Interpretation von Nachrichten spielen. Dabei vermische sich schnell Privates mit ungewolltem Nachrichtenkonsum, sagt die Psychologin, und nennt ein Beispiel: Eigentlich wollte man nur nachschauen, was die Freundin am Freitagabend macht - und stolpere dabei unweigerlich über ein Video von den Protesten im Iran.
Wie berichtet man anders?
Für die Macher von Medien eine Herausforderung, denn: Auf die tägliche Berichterstattung über wichtige Ereignisse zu verzichten, widerspräche dem ureigensten Auftrag von Nachrichtenredaktionen. Nachrichten über den Zustand der Welt tragen auch dazu bei, sich selbst zu verorten. Wie aber berichtet man über Krieg, Pandemie oder Klimakrise, ohne dabei immer nur negative Zeilen zu produzieren?
"Wir müssen Menschen dabei helfen, dass sie aus der Ohnmachtserfahrung herauskommen, die viele in diesen Krisen gemacht haben", meint WDR Newsroomchef Brandenburg: "Dieses Ausgeliefertsein, Verstehen müssen, aber nicht handeln können." Ohne Anleitung, wie man damit umgehen und selber konstruktiv werden könne, führe das vielleicht dazu, "dass Menschen uns vermeiden".
Journalismus müsse vielleicht "an einigen Stellen neu gedacht werden". Das dürfe nicht zu Schönfärberei führen, stellt Brandenburg klar: "Berichten, was ist, aber auch die Frage stellen 'Könnte es nicht auch ganz anders sein?'" Man müsse andere Perspektiven diskutieren, neue Blickrichtungen einnehmen. Auch dürften die Redaktionen nicht bestimmen wollen, "was Menschen wissen sollten, sondern erstmal hinschauen: Welche Bedürfnisse haben Menschen?" Das könne zu einem Journalismus mit mehr Glaubwürdigkeit führen, hofft Brandenburg.
Vom bewussteren Umgang mit Nachrichten
Psychotherapeutin Forlorou rät Nachrichten-Usern, den Konsum bewusst zu timen: Negative Nachrichten über den Zustand der Welt seien verkraftbar für Menschen, die psychisch stabil sind. Wer aber gerade mit der eigenen Vergangenheit oder anderen persönlichen Themen kämpft, solle an solchen Tagen nicht noch "das Weltgeschehen obendrauf packen".
Was aber bedeutet das für seriöse Nachrichtenredaktionen, wenn die Weltlage nun mal viele bedrückende Fakten bereithält, wenn es nicht nur positive Nachrichten zu berichten gibt? Die Psychotherapeutin hat da eine klare Position: "Die Verantwortung liegt beim Individuum" - also bei jedem einzelnen Medienkonsumenten.
Wichtig sei es, kritisch in sich hineinzuschauen: Wer das Gefühl hat, schlechte Nachrichten gut "abschütteln" zu können oder die Möglichkeit, mit anderen darüber zu reden, könne ruhig auch Push-Nachrichten weiter aktiv lassen und bewusst die Nachrichten hören. Wer aber merke, dass das zu Unbehagen führe, sollte es für diese Zeit lassen. Stichwort Resilienz stärken: "Wir sollten darauf achten, dass unser Alltag ausgeglichen ist zwischen Anforderungen - wie dem Konsum von Nachrichten - und positiven Aktivitäten. Wenn diese Waage relativ stabil ist, stärken wir unsere Resilienz."