Bis zu 60.000 Menschen sind ukrainischen Angaben zufolge nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Nacht zu Dienstag von Überschwemmungen bedroht. Zwar soll der Wasserstand in einigen Flutgebieten bereits wieder gesunken sein. Bis das Wasser überall abgeflossen ist, kann es jedoch lange dauern. Insgesamt haben russische und ukrainische Behörden bisher 14 Todesopfer offiziell bestätigt. Weil die Lage in den Flutgebieten nach wie vor unübersichtlich ist, wird befürchtet, dass die Zahl der Opfer weiter steigen könnte.
Unabhängiges Institut: "Sind sicher, dass es eine Explosion gab"
Das norwegische seismologische Institut Norsar hat nach eigenen Angaben eine Explosion am Staudamm zum Zeitpunkt der Zerstörung festgestellt. "Wir sind sicher, dass es eine Explosion gab", sagte Norsar-Chef Ben Dando der Nachrichtenagentur AFP am Freitag. Die Feststellung des unabhängig arbeitenden Instituts spricht dafür, dass der Staudamm durch eine bewusste Aktion zerstört wurde und es kein Unfall war - so wie es allgemein angenommen wird. Angaben zum möglichen Auslöser der Explosion machte das Institut nicht.
Die Explosion hat sich demnach um 02.54 Uhr Ortszeit in einem Gebiet ereignet, das dieselben Koordinaten wie der Staudamm habe. Es sei eine Detonation von einer Stärke "zwischen 1 und 2" gewesen. "Das ist keine leichte Explosion", sagte Dando. Die Explosion sei von einer etwa 620 Kilometer entfernten Messstation in Rumänien festgestellt worden. Dass es sich bei dem Dammbruch um ein Unglück handelt, erscheint angesichts dieser Messungen zunehmend unwahrscheinlich.
Wie erklärt die Ukraine den Dammbruch?
Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist die Schuldfrage längst geklärt: Bereits am Dienstag beschuldigte er Russland, mit der Zerstörung des Staudamms durch eine gezielte Explosion eine "Massenvernichtungs-Umweltbombe" gegen das ukrainische Volk gezündet zu haben. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU teilte am Freitag mit, er habe ein Telefonat russischer Truppen abgefangen.
Dies belege, dass eine russische Sabotage-Truppe das Wasserkraftwerk und den Staudamm gesprengt habe. In dem auf Telegram veröffentlichten Mitschnitt sprechen zwei Männer über die Folgen des Dammbruchs. Unter anderem heißt es darin: "Sie (die Ukrainer) haben ihn nicht getroffen. Das war unsere Sabotagegruppe." Und: "Es lief nicht nach Plan, und sie haben mehr getan, als sie geplant hatten." Ob die Aufnahme echt ist, kann derzeit nicht unabhängig überprüft werden.
Und wie sieht es Russland?
Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja erklärte die Katastrophe erwartungsgemäß mit einer "vorsätzlichen Sabotage durch Kiew". Die Verantwortung liege voll und ganz beim "kriminellen Kiewer Regime" und ihren Unterstützern im Westen. Das russische Außenministerium wurde noch konkreter: Der Dammbruch sei eine geplante und gezielte Aktion des ukrainischen Militärs im Rahmen der eigenen Gegenoffensive. Kiew habe den Staudamm nicht nur beschossen, sondern den Wasserstand durch die vorherige Öffnung einer Schleuse am Oberlauf des Dnipro auf ein kritisches Niveau angehoben.
Wie bewerten Deutschland, USA, Großbritannien und die UN den Vorfall?
Unterschiedlich: Bereits kurz nach dem Dammbruch hieß es aus der deutschen Bundesregierung, die Verantwortung liege mit großer Sicherheit bei Moskau. "Das ist nach allem, was man annehmen kann, eine Aggression der russischen Seite, um die ukrainische Offensive zur Verteidigung des eigenen Landes aufzuhalten", erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei RTL. Ähnlich äußerte sich Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).
Die USA und Großbritannien legten sich hingegen zunächst nicht fest. In Washington sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses, John Kirby, die USA könnten die Lage noch nicht abschließend bewerten. "Wir versuchen weiter Informationen zu sammeln und mit den Ukrainern zu sprechen", sagte er. Der britische Premierminister Rishi Sunak erklärte, er könne noch "nicht sagen, ob Vorsatz dahinter steckt". Sollte Moskau verantwortlich sein, wäre dies laut dem britischen Premier aber ein Beleg für "neue Tiefpunkte russischer Aggression".
Auch das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen will noch kein Urteil abgeben. "Da die Umstände des Vorfalls nach wie vor unklar sind, ist es verfrüht, die Frage zu prüfen, ob ein Kriegsverbrechen begangen worden sein könnte", sagte Sprecher Jeremy Laurence am Freitag in Genf.
Wer könnte von einer Umweltkatastrophe in der Südukraine profitieren?
Die Überflutungen könnten internationalen Beobachtern zufolge möglicherweise der russischen Armee einen strategischen Vorteil bescheren. Denn durch das Hochwasser werden die ukrainischen Truppenbewegungen behindert - weil es schwieriger geworden ist, Menschen und Material an die Front zu bringen. Besonders der Fluss Dnipro, der die ukrainische und die russische Armee in Cherson trennt, wird vorerst nur sehr schwer zu überqueren sein.
Allerdings haben die Überflutungen auch erhebliche negative Folgen für die russische Seite. Nicht nur, dass der Dammbruch auch Infrastruktur und Menschenleben in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine gefährdet. Auch die Wasserversorgung in der von Russland annektierten Krim ist beeinträchtigt. Russland geht aber davon aus, dass sich die Folgen für die Krim in Grenzen halten werden. Die Wasser-Reservoirs der Krim seien voll, erklärte Vize-Ministerpräsident Marat Chuschnullin am Freitag. Die Vorräte reichten für 500 Tage.
Schließlich hat die russische Armee nach Angaben des ukrainischen Generalstabs Ausrüstung und Militärtechnik an der Front verloren. Es gebe tote, verletzte und vermisste russische Soldaten. Eine unabhängige Überprüfung solcher Angaben ist nicht möglich.
Experten sehen keinen Vorteil für Kriegsparteien
Für die Ukraine birgt der Dammbruch überhaupt keinen Vorteil - auf jeden Fall keinen offensichtlichen. Im Gegenteil: Die Wassermassen könnten weite landwirtschaftlich genutzte Gebiete zerstören, was für das auf Lebensmittel-Exporte angewiesene Land einen schweren wirtschaftlichen Schaden bedeutet. Selbst wenn es ukrainische Kräfte darauf angelegt hätten, durch einen Sabotageakt unter falscher Flagge Russland international zu diskreditieren, wären die Kosten der Aktion für die eigene Bevölkerung sehr hoch - wahrscheinlich zu hoch.
Ein schlüssiges Motiv könne er bei keiner der beiden Kriegsparteien erkennen, meinte auch Rafael Loss, Sicherheitsexperte des European Council on Foreign Relations, am Mittwoch im WDR-Interview: "Einen bestimmten Vorteil oder Nachteil lässt sich für eine oder die andere Seite - in militärischer Sicht - aus dieser Dammsprengung und den Überflutungen sicherlich erstmal nicht abzeichnen."