Gewalt an Schulen nimmt zu Aktuelle Stunde 19.03.2024 36:18 Min. UT Verfügbar bis 19.03.2026 WDR Von Nadja Bascheck

Gewalt an Schulen: Steigen die Zahlen wirklich?

Stand: 19.03.2024, 20:34 Uhr

Schlimme Einzelfälle und reißerische Medienberichte erwecken den Eindruck: An den Schulen in NRW gibt es immer mehr Gewalttaten. Die Statistiken dazu sind allerdings nicht eindeutig.

Von Ingo Neumayer

  • Februar 2024: Ein Amoktäter verletzt an einer Wuppertaler Schule vier Mitschüler und sich selbst schwer mit einem Messer.
  • August 2023: Im westfälischen Harsewinkel sticht ein 13-Jähriger vor einer Schule auf einen 12-jährigen Mitschüler ein.
  • März 2023: Die 12-jährige Luise wird in Freudenberg von zwei Klassenkameradinnen erstochen.

Taten wie diese sind selten, doch sie bewegen die Menschen. Vor allem, wenn entsprechende Medienberichte das Thema reißerisch präsentieren. So sprach "Bild online" am Dienstag unter der Überschrift "Das blutige Klassenzimmer" von einer "Schock-Statistik" und behauptete, es gebe immer mehr Waffen und Gewalt an den Schulen. Doch stimmt das wirklich?

Kriminalstatistik erfasst nur Anzeigen, keine Verurteilungen

Genauso wie die Nachrichtenagentur "dpa" verweist die "Bild" dabei auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Diese habe beim Thema Gewalttaten in Schulen in NRW einen Anstieg von 55 Prozent ausgewiesen - von 3.500 im Jahr 2019 auf 5.400 im Jahr 2022. Allerdings sind diese Zahlen aus verschiedenen Gründen mit Vorsicht zu betrachten.

Denn die PKS ist eine Hellfeldstatistik, das heißt: Sie erfasst lediglich Straftaten, die von der Polizei aufgenommen und an die Gerichte übermittelt wurden. Ob sich der jeweilige Tatvorwurf am Ende vor Gericht bestätigen lässt, bleibt unklar und wird auch polizeistatistisch nicht offiziell erfasst.

Dazu kommt: Wo ein Hellfeld ist, gibt es auch ein Dunkelfeld. Also Taten, die nicht angezeigt werden und von denen die Polizei nichts weiß.

Steigt die Zahl der Taten? Oder sinkt die Dunkelziffer?

Bedeutet der vermeintliche Anstieg nun, dass es tatsächlich 55 Prozent mehr Gewalttaten an Schulen gab? Oder war der Anstieg der tatsächlichen Taten geringer, während sich die Zahl der angezeigten Taten stärker erhöht hat? Das sind Fragen, die sich auch das NRW-Innenministerium stellt.

In einem Bericht an den Innenausschuss des Landtags vom 18. Januar 2024 heißt es, man könne keine belastbaren Antworten geben auf die Frage, "ob der Fallzahlenanstieg zumindest teilweise auf eine Verschiebung vom Dunkel- ins Hellfeld zurückzuführen ist".

Taten auf Schulgelände oder Taten im Unterricht?

Dazu kommt, dass in der PKS nicht unterschieden wird zwischen Gewalttaten, die sich im Schulbetrieb, also während des Unterrichts und der Pausen ereignen, und solchen, die auf dem Schulgelände stattfinden. Der ertappte Einbrecher, der den Hausmeister niederschlägt? Sexuelle Gewalt nachts auf dem Schulhof? Ein Drogendeal auf dem Lehrerparkplatz, der in einer Messerstecherei endet? All das sind Beispiele, die ebenfalls in die Statistik einfließen, mit dem Schlagwort des "blutigen Klassenzimmers" allerdings nichts zu tun haben.

Auf Anfrage sendete das Innenministerium dem WDR im Februar Statistiken zu ausgewählten Straftaten im schulischen Bereich, also solche, die direkt im Schulbetrieb passiert sind. Diese sind anders aufgegliedert als die Zahlen, die das Innenministerium dem Innenausschuss im Januar präsentierte und daher schwer vergleichbar.

Zumindest eine Tendenz ist aber bemerkenswert: Laut diesen Statistiken, die auf Daten des Landeskriminalamts NRW basieren, sank die Anzahl der Körperverletzungen im schulischen Bereich im Zeitraum von 2019 bis 2022 um rund 23 Prozent - von 3.800 auf 2.900.

Fallzahlen für das Jahr 2023 liegen dem Innenministerium NRW zwar noch nicht vor, allerdings geht man dort laut dem Bericht vom Januar davon aus, dass der Anstieg weitere zehn Prozent betragen wird. Als eine Erklärung für die Zunahme nennt das Ministerium unter anderem "Nachholeffekte nach der Beendigung der Corona-Pandemie".

Innenminister Reul nennt Gründe

NRW-Innenminister Reul (CDU) nennt im WDR-Interview mehrere Gründe dafür. Erstens: "Corona hat garantiert eine Wirkung gehabt. Isoliert, kein Team, kein soziales Miteinander über Jahre: Das hat Folgen." Als zweiten Grund nennt Reul die Darstellung von Gewalt im Internet und in Computerspielen.

Studiogespräch: Herbert Reul, NRW Innenminister (CDU) Aktuelle Stunde 19.03.2024 33:47 Min. UT Verfügbar bis 19.03.2026 WDR

Ein dritter Grund sei die Zusammensetzung der Schulklassen mit Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen. "Aber erstens nicht bei allen, zweitens nicht immer und drittens muss man sich das genau anschauen. Insofern, ich kann uns nur empfehlen, nicht mit einfachen Antworten herumzugehen, aber das Problem ernst zu nehmen."

Gleichzeitig räumt er ein, dass es in diesem Bereich bislang an wissenschaftlichen Untersuchungen fehle. Daher will die Landesregierung eine "unabhängige wissenschaftliche Studie zu den Gründen und Ursachen des Anstiegs der Kinder- und Jugendkriminalität" beauftragen.


Unsere Quellen:

  • Innenausschuss NRW: Protokoll vom 18.01.2024
  • Innenministerium NRW
  • Interview mit Innenminister Herbert Reul
  • Nachrichtenagenturdpa
  • Bild online