Die Ukraine rückt vor - ist das ein Wendepunkt im Krieg?

Stand: 12.09.2022, 15:08 Uhr

Nachdem das ukrainische Militär offenbar tausende Quadratkilometer zurückerobert hat, fiel in mehreren Regionen des Landes großflächig der Strom aus. Eine Vergeltungsmaßnahme der russischen Armee?

Heftig umkämpft war im Nordosten der Ukraine das Gebiet Charkiw. Jetzt haben russische Truppen den Großteil dieses Gebiets nach ukrainischen Gegenschlägen geräumt. Den vom Verteidigungsministerium in Moskau gezeigten Karten zufolge räumten am Samstag die russischen Einheiten den Norden des Gebiets an der Grenze zu Russland komplett. Kiew wertete dies als militärischen Erfolg, Moskau kommentierte den Rückzug nicht.

Militär-Experten wie etwa Carlo Masala zeigten sich überrascht, wie erfolgreich der ukranische Vorstoß in relativ kurzer Zeit war: "Die Masse an Territorium, die die Ukraine in den letzten drei Tagen eingenommen hat - das war so nicht zu erwarten", sagte der Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr München am Sonntag im WDR. "Gestern war schon ein historischer Tag."

Masala: "Ukraine muss Russland in Bewegung halten"

Im Osten des Landes hat die ukrainische Armee unter anderem die Kontrolle über die Stadt Kupjansk zurückerlangt. Sie ist strategisch wichtig, weil sie gut an Russland angebunden ist - unter anderem der Nachschub für russische Truppen ist jetzt deutlich erschwert. Von Seiten Moskaus war vor dem Rückzug aus dem Gebiet Charkiw von einer "Umgruppierung" zur Verstärkung der Einheiten im Donezker Gebiet die Rede gewesen.

Doch wie sehr wird der Rückzug russischer Truppen aus dem Gebiet Charkiw jetzt den Kriegsverlauf beeinflussen? Schwer zu sagen, meint Carlo Masala. "Die Frage ist: Kann die russische Armee jetzt ihre Verteidigungslinie stabilisieren? Und wenn ja, wo?" Die ukrainischen Truppen müssten Russland jetzt in Bewegung halten - ihnen nicht die Gelegenheit geben, sich wieder auf eine gesicherte Stellung zurückzuziehen.

Niedrige Moral bei russischer Armee

Allgemein beobachtet Masala leichte Auflösungserscheinungen bei den russischen Streitkräften. "Was wir gesehen haben, war kein erbitterter Widerstand Russlands, sondern eine Flucht. Man hatte den Eindruck, dass die russische Front komplett zusammenbricht." Vermutlich hätten Generäle vor Ort eigenmächtig den Rückzug befohlen. Ein einheitliches Kommando sei bei der russischen Armee nicht zu erkennen.

Auch die Moral der russischen Truppen sei niedrig. Trotzdem: Viele Regionen der Ukraine sind nach wie vor besetzt. Fortschritte der Ukraine seien zwar ohne Zweifel zu erkennen - auch der britische Geheimdienst bezeichnet sie als "bedeutend". Das Tempo der ukrainischen Offensive hat sich seit Samstag aber offenbar verlangsamt.

Michael Kofman, Experte für das russische Militär beim US-Think Tank CNA, sagte, die Gegenoffensive sei ein bedeutsamer Sieg für die Ukraine. "Die russischen Truppen schienen ausgedünnt zu sein und die Militärführung unvorbereitet, obwohl es zuvor bereits Anzeichen einer ukrainischen Truppenverstärkung gegeben hat", schrieb Kofman. "Ich glaube, es ist eine angemessene Einschätzung, dass Russland überrumpelt wurde und vor Ort wenig Reserven zur Verfügung hatte."

Russischer Vergeltungsschlag auf zivile Infrastruktur?

Nach dem ukrainischen Erfolgsmeldungen war in mehreren ukrainischen Regionen am Sonntagabend der Strom ausgefallen. Präsident Wolodymyr Selenskyj warf den russischen Truppen vor, kritische Infrastruktur beschossen zu haben, um den Menschen Strom und Heizung zu nehmen. Seinen Angaben zufolge fiel der Strom in den Regionen Charkiw und Donezk komplett aus, in Saporischschja, Dnipropetrowsk und Sumy zum Teil. Der Bürgermeister der Stadt Charkiw, Ihor Terechow, bezeichnete die Angriffe als "Vergeltung des russischen Aggressors für die Erfolge unserer Armee an der Front, vor allem in der Region Charkiw".

Nach Angaben von Gouverneur Oleh Sinegubow waren bis zum Montagmorgen 80 Prozent der Storm- und Wasserversorgung in der Region Charkiw wiederhergestellt worden. Danach brach die dortige Strom- und Wasserversorgung laut den dortigen Behörden erneut zusammen. Die Lage der vergangenen Nacht habe sich wiederholt, sagte Charkiws Bürgermeister Terechow. Als Grund nannte er russischen Beschuss. Die Notdienste würden daran arbeiten, die Versorgung wieder herzustellen.

Politikwissenschaftler hält Waffenlieferungen für entscheidend

Eine zentrale Rolle im Krieg können auch weiterhin westliche Waffensysteme spielen. Schon bei der jetzigen Offensive seien sie entscheidend gewesen, schätzt Militärexperte Masala. Mit ihrer Hilfe habe man die russische Logistik entscheidend treffen können. Das habe die Geländegewinne überhaupt erst möglich gemacht.

Lawrow: Moskau lehnt Friedensverhandlungen nicht ab

Und was ist mit Friedensverhandlungen zwischen Moskau und Kiew? Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte im Staatsfernsehen, Moskau lehne Verhandlungen mit der Ukraine nicht ab, doch je länger der Prozess hinausgezögert werde, desto schwerer werde es, sich zu einigen. Lawrow rechtfertigte einmal mehr das russische Vorgehen. Er sprach von einer Auseinandersetzung mit dem ganzen Westen. Dieser versuche, seine Vormachtstellung zu bewahren.