In den 1960er Jahren entdeckt Mary Bauermeister bei einem Antiquitätenhändler in New York zufällig ein Konvolut von Linsen. Sie klebt die optischen Objekte auf Glas und setzt Kästen mit Fundstücken, Tuschezeichnungen und Wörtern dahinter.
Die geheimnisvollen "Linsenkästen", die das Licht brechen und ihren Inhalt je nach Blickwinkel verändern, machen sie in den USA berühmt. Und sie sind symptomatisch für das multiperspektivische Denken der Künstlerin, das nie bei einer Sicht der Dinge stehen blieb.
"Ich mag es, wenn ich Dinge relativieren kann", sagte sie dementsprechend. "Wenn ich etwas schreibe oder zeichne und mehrere Linsen darüber setze, die alles vergrößern oder auf den Kopf drehen, dann vervieldeutige ich es. Darum geht es mir."
John Cage spielt: nichts
Geboren wird Bauermeister am 7. September 1934 in Frankfurt am Main. Die Mutter ist Sängerin, der Vater Anthropologe. Nach der Scheidung der Eltern zieht sie mit dem Vater ins Rheinland.
Obwohl mathematisch hochbegabt, läuft sie noch vor dem Abitur mit ihrer Kunstmappe davon und studiert unter anderem in Ulm bei dem Architekten Max Bill und in Stuttgart bei dem Fotografen Otto Steinert.
1956 bezieht Bauermeister in Köln ihr legendäres Atelier, das sie mit dem Haustürverkauf ihrer Pastelle finanziert. In der Lintgasse 28 trifft sich die Avantgarde zu experimentellen Performances.
Hier inszeniert Otto Piene sein "Lichtballett", John Cage spielt mit "4’33" die Stille. Nam June Paik zersägt ein Klavier und shampooniert David Tudor den Kopf, während eine Tonbandcollage den Koreakrieg kritisiert. Diese das Genre sprengenden Aktionen bringen Bauermeister den Ruf ein, die "Mutter der Fluxus-Bewegung" gewesen zu sein.
"Ménage à trois"
Von Anfang an dabei ist der Pionier der elektronischen Musik Karlheinz Stockhausen, den Bauermeister 1957 kennenlernt und dessen Darmstädter Kompositionskurse sie 1961 besucht. Im selben Jahr beginnt Bauermeister mit Stockhausen und seiner Frau Doris eine "Ménage à trois".
1962, im Jahr ihrer ersten Einzelausstellung im Amsterdamer Stedelijk Museum, zieht sie mit der Familie nach New York, wo Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely gute Freunde werden. Ein monatlicher Scheck der Galerie Bonino sichert Bauermeister finanzielle Unabhängigkeit.
Stockhausen und Bauermeister heiraten 1967. Im selben Jahr wird nach der Tochter Julika (1966) der Sohn Simon (1967) geboren, der wie der Vater Komponist wird und mit der Mutter zusammenarbeitet.
Die Wunderkammer
1972 kehrt Bauermeister nach Deutschland zurück. Von Stockhausen lässt sie sich 1973 scheiden: "um meine eigene Biografie zu leben", wie sie in ihrer Autobiografie "Ich hänge im Triolengitter" 2013 schreibt. Dort gibt sie auch an, ein weiter Grund für die Trennung sei gewesen, dass sie im Unterschied zu Stockhausen weitere Kinder hätte haben wollen.
Im selben Jahr erwirbt sie in Rösrath ein Grundstück, wo der Kölner Architekt Erich Schneider-Wessling ihr ein lichtdurchflutetes Holzhaus errichtet. Aus der Beziehung mit dem Komponisten David Johnson geht 1972 die Tochter Sophie hervor; 1974 bekommt sie mit dem israelischen Künstler Josef Halevi die Tochter Esther.
Nach dem Auszug der Kinder verwandelt Bauermeister das Haus und den stetig vergrößerten Garten mit seinen Prismen-Stelen, Gartenhaus-Bibliotheken, kultischen Versammlungskreisen und zu Gästezimmern umfunktionierten Roncalli-Zirkuswagen in eine museale Wunderkammer, in deren Zentrum ein Turm mit ihren Kleidern steht. Von hier aus bestückt Bauermeister bis zum Schluss Ausstellungen im In- und Ausland mit ihren Werken.
Landschaft im Echorohr
In Rösrath öffnet Bauermeister einmal im Monat ihr Domizil, organisiert Lesungen und Konzerte und schenkt den Gästen ihre legendäre Kürbissuppe aus. Manchmal spielte sie auf dem von ihr erfundenen "Echorohr" aus Blech und Bambus, über das sie - hinein singend und hinein lachend - "die feinstoffliche Signatur der Landschaft" hörbar machen will.
Da wohnt sie selbst schon auf einem umgebauten Gutshof im oberbergischen Reichshof-Oberagger, in dem sie ihre Linsenkästen baut, Steinspiralen klebt und in einer riesigen Scheune ihr letztes Großprojekt verfolgt, das die deutsche Flagge auf die Beine und den Kopf stellen, das Schwarz erden und das Gold in die Freiheit des Himmels entlassen will.
Linsen, Steine, Äste, Bergkristalle: Immer verknüpft Bauermeister Vorgefundenes mit Eigenem und bringt die Natur - oft mittels mathematischer oder musikalischer Systematiken - in eine neue Ordnung. Damit ist sie ihrer Zeit voraus, wie das MoMa und das Guggenheim-Museum, die schon früh Werke ankaufen, bald erkennen. Auf dem deutschen Kunstmarkt wird Bauermeisters Kunst aber lange als "Weiberkram" abgetan. Erst 2021 wird ihr der erste Kunstpreis des Landes NRW für ihr "herausragendes künstlerisches Gesamtwerk" verliehen.
"Hier ruht in Eile..."
Bauermeister selbst sah ihre Kunst vor allem auch als Quell ihrer Lebensenergie und schier unermüdlichen Schaffenskraft: Wenn sie krank werde, sagte sie einmal, dann müsse sie sich nur "in ihre Steinhaufen flüchten und Steine kleben", dann werde sie gesund. Am Ende aber konnten auch die Steine Bauermeister nicht mehr helfen. Die Künstlerin hatte ihre eigene Grabbskulptur entworfen und im Juni 2022 auch in den „Gärten der Bestattung“ von Pütz-Roth eingeweiht. Bauermeister starb am 2. März 2023 im Alter von 88 Jahren.