Präzedenzfälle, bei denen sich Teile einer Partei abspalten, gibt es mehrere: 1982 fiel der Kritiker von Bundeskanzler Helmut Schmidt, der linke Düsseldorfer SPD-Bundestagsabgeordnete Karl-Heinz Hansen, bei seiner Partei in Ungnade. Im Streit um den NATO-Doppelbeschluss gründete er die "Demokratischen Sozialisten", eine schon bald vergessene Splitterpartei.
Über zwanzig Jahre später gründeten von Gerhard Schröders Agenda 2010 enttäuschte Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Linke die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit - kurz WASG. Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine machte von 2005 an mit, organisierte eine Fusion mit der PDS und führte die neue Linkspartei in den Bundestag.
Neugründung nur noch eine Frage der Zeit?
Weitere zwanzig Jahre später scheint sich Geschichte zu wiederholen: Nun plant Lafontaines Lebensgefährtin Sahra Wagenknecht, wie einst Karl-Heinz Hansen MdB lange Zeit mit Wahlkreisbüro Düsseldorf, eine eigene Partei.
Vieles deutet darauf hin, dass die Gründung einer Wagenknecht-Partei nur noch eine Frage der Zeit ist. Nach Informationen der Linken-nahen Zeitung ND organisieren sich ihre Unterstützer bei Facebook. Auch in Medien des Springer-Verlags wurde eine Gründung schon als so gut wie sicher vermeldet. Wagenknecht zelebriert ihren langsamen Abgang seit Monaten medial mit vielen Interviews.
Butterwegge sieht Chance auf neue Aufbruchstimmung
Der Armutsforscher Christoph Butterwegge, kein Parteimitglied, aber 2017 Kandidat der Linken für das Amt des Bundespräsidenten, rechnet nicht mit einem Verbleib Wagenknechts. "Für die Linke wäre ein Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne Ende. Die Selbstzerfleischung innerhalb der Linken dauert ja nun seit Jahren an. Eine friedliche Koexistenz der verschiedenen Strömungen ist nicht mehr realistisch."
Eine Wagenknecht-Partei könnte laut Butterwegge "eine neue Aufbruchstimmung entfachen - und die AfD schwächen". Nicht alle AfD-Wähler seien rechtsextremistisch oder rechtspopulistisch. Das Wählerpotential schätzt der Politikwissenschafter auf 10 bis 15 Prozent - zumindest bei der Europawahl. Denn bei Europawahlen sind die Wähler ja eher mal bereit, von ihrem traditionellen Wahlverhalten abzuweichen – teils auch aus Protest.
Die Linken-Landesvorsitzenden in NRW, Kathrin Vogler und Sascha H. Wagner, teilen auf WDR-Anfrage mit: "Nach unseren Erkenntnissen gibt es in der Sache keine neuen Entwicklungen. In Anbetracht des massiven Rechtsrucks können wir nur dringend davon abraten, ein neues Parteiprojekt zu forcieren." Und so lange "Sarah Wagenknecht Mitglied unserer Partei ist, erwarten von ihr wie von allen Abgeordneten, sich in ihren öffentlichen Äußerungen positiv auf unsere Partei und unsere demokratisch beschlossenen Positionen zu beziehen".
Ex-MdL "indifferent" gegenüber Wagenknecht-Partei
Rüdiger Sagel, einst Grünen- und Linken-Landtagsabgeordneter in NRW, sagt: "Wir brauchen meiner Meinung nach eine wählbare Partei, die sich gegen die Kriegslogik und gegen Waffenlieferungen wendet. Zu einer möglichen Wagenknecht-Partei habe ich noch keine Position. Ich bin da derzeit indifferent." Ex-Landeschef Sagel war 2019 bei den Linken ausgetreten: "Ich war die Sektenbildungen und die Diffamierungen in der Linken leid."
Eine siechende Partei
Hört man sich in der NRW-Linken um, gewinnt man den Eindruck einer siechenden Partei. "Die Parteiversammlungen sind schlecht besucht", sagt einer. Viele seien genervt und ermüdet von der Endlos-Hängepartie um die Abspaltung. Einige Sahra-Fans wenden sich von der Linken ab. Aber manche, die ein härteres Vorgehen gegen die ungeliebte "Rebellin" fordern, ebenfalls.
In NRW sank die Zahl der Parteimitglieder seit Ende 2022 bis August von 7.764 auf 7.304. Und etliche Genossen warten noch ab, was passiert.
"Organisatorisch fitte Leute"
Wenn Wagenknecht wirklich ernst macht, benötigt sie erfahrene Mitstreiter, um eine Kandidatur bei der Europawahl 2024 anzugehen. "Sie bräuchte da organisatorisch fitte Leute, um etwas aufzubauen. Bei manchen Leuten aus ihrem Umfeld wie Diether Dehm habe ich da sehr große Zweifel", so Sagel. Wagenknecht selbst sei ja "eher introvertiert" - was man vom Musikproduzenten ("Was woll’n wir trinken 7 Tage lang") und ehemaligen Bundestagsabgeordneten Dehm nicht sagen kann. Der 73-Jährige fällt immer wieder mit seiner Russlandnähe auf, während der Corona-Pandemie reiste er in das Land Putins, um sich mit dem dortigen, in der EU nicht zugelassenen Impfstoff Sputnik V impfen zu lassen.
Wagenknecht soll jedoch auch andere Politprofis aus dem Umfeld ihres Lebensgefährten Oskar Lafontaine an die Seite gestellt bekommen, um die Formalien und Orga-Fragen einer Neugründung hinzukriegen, ist zu hören. Ein erneutes Scheitern wie 2018/19 mit ihrer Bewegung "Aufstehen" soll vermieden werden.
Die entscheidende Frage aber lautet: Wofür soll eine Wagenknecht-Partei stehen? Ob der Mix aus Kritik an angeblichen woken "Lifestyle-Linken", Putin-Verharmlosung und plakativen Sozialforderungen, den Wagenknecht bei Talkshow-Auftritten und in ihren Büchern kredenzt, als Basis einer Partei ausreicht, bleibt abzuwarten. Viel Arbeit also for die "Lordsiegelbewahrerin des gestärkten Bügelblusenmarxismus" (Wiglaf Droste).
Bei der Wahl ihrer politischen Verbündeten ist Wagenknecht jedenfalls nicht wählerisch. Gegen die Ukraine-Politik der Bundesregierung demonstrierte die Sozialistin mit der Feministin (und vorbestraften Steuerhinterzieherin) Alice Schwarzer. Der gemeinsame politische Nenner: Der Wunsch nach Frieden – und ein gewisses Verständnis für Putin. Womöglich ist auch das die Basis für die jüngst kolportierte Wiederannäherung ihres Ehemanns Oskar Lafontaine und seinem früheren Erzfeind Gerhard Schröder. Da schließt sich der Kreis.
Anti-Krieg und Soziales
Die soziale Frage müsse mit der Friedensfrage verbunden werden, sagt Christoph Butterwegge. "Dass in diesem Land 100 Milliarden Euro für Aufrüstung da sind, aber die Kindergrundsicherung nur als Schrumpfversion startet, sollte von einer neuen Partei skandalisiert werden." Auch die wachsende Ungleichheit im Land müsse Thema der neuen Partei sein. "Der soziale Zündstoff ist da – auch in NRW-Großstädten mit ihren teils abgehängten Quartieren der Armen", so der Ex-Präsidentschaftskandidat. "Viele von ihnen gehen ja gar nicht mehr zur Wahl. Vielleicht kann eine neue Partei dieses Wählerpotential für sich gewinnen."
Der Politologe rechnet mit der Gründung einer neuen Wagenknecht-Partei, wie immer sie dann auch heißen mag, im kommenden Jahr. "Und zwar deshalb erst 2024, weil dann die staatliche Parteienfinanzierung wegen der Wahlkampfkostenerstattung zur Europawahl größer ausfallen würde."
Unsere Quellen:
- Telefoninterviews mit den zitierten Gesprächspartnern
- Schriftliches Statement der Linke-Landesvorsitzenden per Mail