Ihr ganzes Leben hat Verena von anderen Menschen zu hören bekommen, dass das, was sie erzählt, nicht stimmen kann. Dass es die Gewalt, von der sie berichtet, nicht geben kann: „Wir müssen uns rechtfertigen als Opfer. Wir haben es satt bis oben hin.“
Verena heißt eigentlich anders, möchte ihren echten Namen nicht öffentlich nennen. Denn sie hat noch immer Angst. Von frühester Kindheit an, sagt sie, hat sie sexuelle Gewalt und Ausbeutung in einer besonders extremen Form erlebt: durch eine satanistische Gruppierung, der auch ihre Eltern angehört hätten.
Es sind schlimme Erinnerungen an Vergewaltigung, psychische Manipulation und Folter. „Mein Körper ist ein Wrack“, beschreibt Verena die Folgen und zeigt die Narben an ihren Armen und ihrem Oberkörper. „Ich habe kaum eine Möglichkeit, Beziehungen aufzubauen. Ich habe Angst vor Nähe.“
Einmal habe sie sich an die Polizei gewandt. Aber konkrete Namen und Orte zu nennen, davor hatte sie zu viel Angst: „Das wäre mein Todesurteil gewesen.“ Eine Strafverfolgung war so nicht möglich. Verena wurde, so erzählt sie es, weiter durch die Gruppierung unterdrückt und ausgebeutet.
Vielzahl von Betroffenen
Überprüfen lassen sich Verenas Angaben im Detail nicht. Sie decken sich aber mit den Beschreibungen anderer Betroffener über solche rituelle und organisierte sexuelle Gewalt. Dazu gehören Berichte über Tätergruppen, die sich im Rahmen von Ritualen an satanischen „Feiertagen“ an ihren Opfern vergehen.
„Ich habe über hundert Berichte gehört von einzelnen Menschen“, sagt etwa Brigitte Hahn, die fast 20 Jahre lang Betroffenen geholfen hat, als Leiterin einer Beratungsstelle der katholischen Kirche in Münster. „Das war einmalig in der Bundesrepublik. Das Bistum hat sich an die vorderste Stelle gestellt und gesagt, wir helfen diesen Menschen. Das fand ich genial“, sagt Hahn. Die Stelle richtete sich ausdrücklich an alle Betroffenen, egal ob sie innerhalb oder außerhalb kirchlicher Strukturen sexuelle Gewalt erlebt haben.
Auch Verena ist in Münster jahrelang zur Beratung gekommen: „Uns wurde zugehört, es wurde nicht bewertet. Und die Beratungsstelle hat uns Möglichkeiten aufgezeigt, aus den Fängen dieser Gruppierung herauszukommen, im Alltag klarzukommen.“
Bistum Münster schließt Beratungsstelle
Doch damit ist inzwischen Schluss. Das Bistum Münster hat die Beratungsstelle vor zwei Monaten geschlossen, ohne Ankündigung. Die Begründung des Bistums: Die „Existenz ritueller Netzwerke“ sei umstritten. Die Beratung sei „nicht länger vertretbar“, heißt es in einer Pressemitteilung.
„Dass es organisierte, sexuelle Gewalt gibt, steht außer Frage“, sagt dazu Antonius Hamers im Interview mit dem WDR, der Bischöfliche Beauftragte für die Beratungsarbeit im Bistum Münster. Extrem umstritten sei aber, ob es die Kombination aus ritueller und organisierter sexueller Gewalt gebe: „Und da wollen wir uns selber nicht zur Partei machen.“
Betroffene kämpfen um Glaubwürdigkeit
Tatsächlich gibt es seit Jahren Stimmen aus der Kriminalistik und der psychologischen Forschung, die Betroffene ritueller sexueller Gewalt für unglaubwürdig erklären. Die behaupten, für satanistische oder exorzistische Täternetzwerke fehlten die Beweise, etwa ein großer Prozess, der ein solches Netzwerk ans Licht gebracht hätte.
Dem gegenüber steht eine Reihe von Therapeuten und Therapeutinnen, deren Patientinnen von systematischer ritueller sexueller Gewalt berichten. Außerdem gibt es auch einzelne Verurteilungen. So war etwa ein Mann aus dem Kreis Lippe 2011 zu neun Jahren Haft verurteilt worden, weil er seine Tochter über Jahre in exorzistischen Ritualen vergewaltigt und sie auch anderen Männern zur Verfügung gestellt hatte.
Kerstin Claus, die Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, hält nichts davon, Betroffenen ihre Gewalterfahrungen nur deshalb pauschal abzusprechen, weil sie von sektenähnlichen Strukturen berichten: „Sexuelle Gewalt hat immer etwas mit Macht zu tun. In einigen Fällen wird sie verstärkt und gerechtfertigt mit Ideologien, um die Macht der Täter noch einmal zu verstärken und Betroffene einzuschüchtern."
Offensichtlich hat es diese Form der sexualisierten Gewalt auch innerhalb der katholischen Kirche gegeben. In der großen Missbrauchsstudie, die das Bistum Münster im Jahr 2022 vorgelegt hat, sind durch Historiker sechs Fälle rituellen Missbrauchs dokumentiert.
Eine weitere Betroffene hat nach Westpol-Recherchen ganz aktuell ihren Fall beim Bistum und bei der Staatsanwaltschaft eingereicht. Sie berichtet von jahrelanger schwerster sexueller Gewalt durch einen Exorzistenzirkel innerhalb der Kirche und möchte, dass ihr Leid anerkannt wird.
Der Münsteraner Bischof Felix Genn schien in der Vergangenheit bemüht, solchen Menschen entgegenzukommen. In einem persönlichen Brief, der Westpol vorliegt, drückte er einer Betroffenen im Jahr 2018 sein Mitgefühl aus. Die Frau hatte ebenfalls in der jetzt geschlossenen Beratungsstelle Hilfe bekommen. Genn versprach ihr damals: „Seien Sie versichert, dass diese Arbeit auch weiter einen wichtigen Raum in unserem Bistum einnehmen wird.“
Verein bestreitet die Existenz ritualisierter sexueller Gewalt
Warum also jetzt dieser Sinneswandel? Der Brief des Bischofs sei schon wieder einige Jahre her, sagt dazu der Vertreter des Bistums, Antonius Hamers. Es gebe neue Erkenntnisse. Außerdem habe es Beschwerden gegeben über die Beratung. Von wem genau und wie viele Beschwerden, das möchte das Bistum Münster nicht sagen. Westpol liegen aber Hinweise vor, dass es dabei vor allem um eine ganz bestimmte Beschwerde ging.
So meldete sich im vergangenen Jahr beim Bistum der Verein „False Memory“ (zu Deutsch: Falsche Erinnerung). Nach eigenen Angaben setzt sich der Verein für Menschen ein, die angeblich zu Unrecht des sexuellen Missbrauchs beschuldigt werden. Außerdem bestreitet False Memory, dass es so etwas wie sexuelle Gewalt durch rituelle Täterorganisationen überhaupt gibt.
Dem Münsteraner Bischof übermittelte der Verein die Beschwerde einer Frau, die behauptet, ihr sei die sexuelle Gewalt nur eingeredet worden, ebenso wie die Zugehörigkeit zu einer satanischen Gruppierung. Und zwar von einer der beiden Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle, einer Therapeutin, in deren Praxis.
Der „Spiegel“ griff die Vorwürfe dieser Patientin auf und machte aus dem einen Fall einen Artikel, der nahe legt, es habe System, dass Betroffenen diese Form von rituellem und organisiertem Missbrauch in Therapien eingeredet wird.
Die Therapeutin bestreitet auf Anfrage, jemals einer Patientin etwas eingeredet zu haben. Es habe sich auch nie zuvor eine andere Patientin über sie beschwert. Die Beratungsstelle des Bistums Münster allerdings wurde zwei Tage nach der Veröffentlichung des „Spiegel“ geschlossen.
„Wir sind natürlich sehr erleichtert, wir haben diese Arbeit seit Jahren mit Sorge betrachtet“, sagt Heide-Marie Cammans, Vorsitzende des Vereins „False Memory“. Sie behauptet, dass es ganz leicht sei, dem Gehirn von Betroffenen in einer Therapie „Inhalte einzugeben.“
Kein neues Angebot für Betroffene
„Absurd“ findet das Kerstin Claus, die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung: „Einerseits wird gesagt, Therapeuten hätten die Macht, Betroffenen Erinnerungen an massive Gewalterfahrungen einzupflanzen. Aber Tätergruppen, das wird von Kritikern unterstellt, sollen nicht die Macht haben, Kinder und Jugendliche so zu konditionieren oder zu manipulieren, dass sie den Missbrauch zum Beispiel decken, aktiv aufrechterhalten oder Erinnerungen daran auch über viele Jahre abspalten und sich nicht erst Jahre später bewusst daran erinnern.“ Also so zu manipulieren, dass sie den Missbrauch z.B. decken oder sich erst Jahre später bewusst daran erinnern.
„Da sehe ich eine Diskrepanz und frage mich, was soll diese Debatte?“, sagt Claus. Sie befürchtet, dass bewusst ein Klima geschaffen wird, in dem grundlegend Betroffenen von sexueller Gewalt seltener geglaubt wird.
Antonius Hamers, der Vertreter des Bistum Münster, bestreitet, dass man Betroffenen ihr Leid absprechen wolle. Die Kirche wolle sie auch nicht im Regen stehen lassen. Doch bisher gibt es keine Alternative zur geschlossenen Beratungsstelle. Der Verein Zartbitter in Münster hat es nach Westpol-Informationen abgelehnt, die Beratung zu übernehmen. Man könne die Lücke nicht schließen. Die Beratungsplätze für so komplexe Fälle seien begrenzt.
Hamers stellt die Frage, warum denn diejenigen, die so ein Angebot fordern, sich nicht selbst darum kümmern würden: „Warum wird das bei uns abgeladen? Das kann ich nicht nachvollziehen.“
Verena, die Betroffene, der jahrelang in der Beratung geholfen wurde, sieht zumindest eine moralische Pflicht dazu: „Ein Bistum der katholischen Kirche sollte versuchen, wenigstens auf der Ebene etwas zu helfen.“