Als Insa Backe den Jungen an einem hinteren Tisch im Klassenraum aufruft, reckt er seinen Arm schon seit mehreren Minuten in die Luft. Es ist ihm wichtig, dass die Journalistin aus dem Team der MausKlasse, die an diesem Freitag in seine Klasse an der Peter-Härtling-Schule in Langenfeld gekommen ist, hört, was er zu sagen hat.
"Ich habe einen Freund, der leitet mir solche Kettenbriefe immer weiter, obwohl ich ihm gesagt habe, dass ich das nicht will", erklärt er. "Aber ich habe solche Nachrichten auf WhatsApp auch schon von meiner Oma bekommen."
Mit "solche Nachrichten" meint der Viertklässler SMS, Mails oder andere Nachrichten, die von Unbekannten über Messenger-Dienste wahllos an zahlreiche Empfänger verschickt werden. Darin werden die Leser aufgefordert, die Nachricht an möglichst viele Bekannte weiterzuleiten - nicht selten in Verbindung mit einer Drohung.
Seit mehr als 20 Jahren besucht Insa Backe Schulen in NRW. Seit 2015 klärt sie Schülerinnen und Schüler in vierten und fünften Klassen für die MausKlasse über die Gefahren in der digitalen Welt auf. Das zentrale Thema sind dann "Fake News". "Denn solche Kettenbriefe, aber auch Schockanrufe, die Kinder immer wieder bekommen, sind nichts anderes als gezielte Fehlinformationen", sagt Backe.
Das erwartet Sie in diesem Artikel:
💡 Was sind Kettenbriefe?
💡 Was sind Schockanrufe?
💡 Wie groß ist das Problem der Kettenbriefe und der Schockanrufe?
💡 Wie verhalten sich Kinder bei einem Kettenbrief richtig?
💡 Wie verhalten sich Kinder bei einem Schockanruf richtig?
💡 Wie können Eltern ihre Kinder schützen und unterstützen?
Was sind Kettenbriefe?
Schon lange bevor es digitale Medien gab, wurden in der Schule Kettenbriefe weitergegeben. Zu analogen Zeiten ging es darin meist darum, dass man einen Brief an eine bestimmte Zahl von Mitschülern oder Freunden verschicken sollte und sich dadurch ein Wunsch erfüllen oder die Kinder ganz viel Glück haben würden.
An diesem Grundprinzip hat sich nichts geändert. Jedoch an der Form, wie die Briefe verschickt werden, von wem sie kommen und was darin steht. Denn heute haben viele Kinder ab einem bestimmten Alter schon ein eigenes Handy oder Smartphone.
Laut der Kinder- und Jugendstudie 2022 des Digitalverbands Bitkom besitzen 86 Prozent der Zehn- bis Zwölfjährigen in Deutschland bereits ein eigenes Smartphone. Vor allem Nachrichten schreiben und verschicken über WhatsApp, Telegram und Co. ist bei den Zehn- bis 18-Jährigen beliebt. Und über genau diese Kanäle erreichen die Kinder mittlerweile digitale Kettenbriefe.
"Die Kettenbriefe kommen von Absendern, die sich nicht zurückverfolgen lassen und die die Nachrichten wahllos an möglichst viele Personen verschicken", erklärt Martina Rautenberg. Die Kriminalhauptkommissarin arbeitet bei der Kriminalprävention im Rhein-Erft-Kreis. Mit ihrem Kollegen Reiner Temburg klärt sie in einem Podcast über die Gefahren im Internet auf, zu denen eben auch solche Nachrichten gehören.
"Mit den harmlosen Kettenbriefen von früher haben die heutigen nicht mehr viel zu tun", erklärt Rautenberg. Denn oft enthalten die Nachrichten übelste Drohungen, mit denen vor allem Kinder und Jugendliche dazu gebracht werden sollen, sie weiterzuleiten.
Ein Kettenbrief, der traurige Bekanntheit erlangte, kam von einem Account namens "Momo". Versehen mit dem verzerrten Gruselbild einer weiblichen Figur drohte der Versender, nachts bei den Kindern am Bett aufzutauchen, sollten sie die Nachricht nicht an mindestens 15 Kontakte weiterleiten.
Während dieser Kettenbrief offenbar einzig das Ziel hatte, Kindern und Jugendlichen Angst zu machen, verschicken viele Täter die Nachrichten aus kriminellem Antrieb. "Darin ist dann beispielsweise ein Link, der auf eine Website führt", sagt Rautenberg. Je mehr Zugriffe diese Seite bekommt, desto mehr Einnahmen haben die Täter. "In anderen Fällen verbirgt sich hinter den Links ein Virus, der dann die Daten auf dem Smartphone abgreift oder das Gerät lahmlegt", erklärt die Kriminalhauptkommissarin.
Rautenberg erinnert sich auch noch an eine andere Masche. "Eine Zeit lang wurden Bilder - beispielsweise von Kerzen - verschickt, die die User dann als Profilbild bei WhatsApp nutzen sollten oder in ihren Status stellen." Damit sollten sie angeblich Solidarität mit behinderten Menschen, Flüchtlingen oder einer anderen Gruppe signalisieren. "Die Bilder waren aber urheberrechtlich geschützt und kurz darauf bekamen alle, die das gemacht hatten, eine Abmahnung und sollten eine Geldstrafe zahlen", sagt Rautenberg
Was sind Schockanrufe?
Unter Schockanrufen versteht man Anrufe von Unbekannten, die den Angerufenen entweder beschimpfen, erpressen, ihm von einer drohenden Gefahr berichten oder erzählen, etwas Schreckliches wie ein Unfall sei im Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis aufgetreten.
Ein typisches Beispiel dafür ist unter anderem der Enkeltrick. Der Anrufer erzählt dann älteren Menschen, er sei ein Freund ihres Enkels, ihres Kindes oder eines anderen Verwandten oder Freundes, der gerade nicht selbst anrufen könne - weil er einen Unfall oder Ähnliches hatte. Deswegen brauche er auch dringend Geld, das die Angerufenen überweisen oder einem Boten geben sollen, der bei ihnen vorbeikomme.
"Etwas Ähnliches gibt es leider auch bei Kindern", erzählt Backe. Den Kindern werde dann erzählt, dass sie ihr Taschengeld oder Geld aus dem Portemonnaie ihrer Mutter nehmen sollen und an einem bestimmten Ort ablegen. Um die Kinder unter Druck zu setzen, werde ihnen gedroht, so Backe.
In anderen Fällen sollen die Kinder auf diese Weise dazu gebracht werden, eine Straftat zu begehen. "In den schlimmsten Fällen sollen sie sich selbst etwas antun", sagt Insa Backe. Dazu kämen nicht selten Fälle, in denen die Anrufer nur Kinder anrufen, um sich selbst sexuell zu befriedigen, während sie am Telefon sind.
Wie groß ist das Problem der Kettenbriefe und der Schockanrufe?
Das ist schwer zu sagen, denn offizielle Zahlen gibt es nicht. Selbst die Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes, die sich eingehend mit dem Thema beschäftigt, verfügt über keine belastbaren Daten. "Das hängt damit zusammen, dass das Anzeigeverhalten bei diesen Vergehen sehr gering ist", sagt Rautenberg. Die Dunkelziffer sei dadurch riesig.
"Das Problem wird aber immer größer", sagt Insa Backe, die fast jede Woche mit der MausKlasse eine andere vierte oder fünfte Klasse in NRW besucht. "Die Kinder erzählen immer häufiger von solchen Nachrichten, die sie auf ihr Handy bekommen."
Ähnliche Erfahrungen hat Horst Storb gemacht. Storb, den alle nur "Hotte" nennen, ist Polizeihauptkommissar in Gelsenkirchen. Mehrfach war er mit Backe und der MausKlasse schon an Schulen. Zehn Jahre lang begleitete er das Projekt "Sichere Schule in Gelsenkirchen" und hatte dadurch viel Kontakt zu Lehrern und Schülern.
"Das Problem ist nicht nur, dass die Kinder schon so früh ein Handy haben und solche Nachrichten im Umlauf sind", sagt Storb. "Es ist, dass sie oft nicht darauf vorbereitet sind, so etwas auf ihr Smartphone zu bekommen." Und genau da sieht Storb Eltern, Lehrer und Sozialpädagogen an den Schulen in der Pflicht.
Genau hier setzen auch Insa Backe und das Team der MausKlasse an. Bei ihren Besuchen in vierten und fünften Klassen in NRW besprechen sie unter anderem mit den Schülern und Schülerinnen, wie Nachrichten gemacht und Informationen geprüft werden und vor allem, dass es eben auch gezielte Desinformation gibt.
Wie verhalten sich Kinder bei einem Kettenbrief richtig?
Es gibt einen Satz, den Insa Backe nicht müde wird zu wiederholen, wenn sie mit den Schulklassen über "Fake News" redet: "Wissen ist Werkzeug in eurem Kopf. Wenn ihr das habt, könnt ihr es immer rausholen, wenn ihr es braucht – um Euch selbst zu helfen oder anderen." Auch der MausKlasse an der Peter-Härtling-Schule in Langenfeld gibt sie den Rat.
Wichtig sei, dass die Kinder sich nicht einschüchtern ließen und vor allem nicht glaubten, dass ihnen etwas passieren könne, wenn sie die Nachricht nicht weiterleiten. Deswegen sollten sie den Kettenbrief nicht an Freunde schicken, sondern ihn einfach löschen. Um den Kindern das zu deutlich zu machen, hat Backe das Sprichwort "Lügen haben kurze Beine" etwas angepasst: "Lügen haben gar keine Beine", sagt sie. "Wenn ihr sie nicht weiter tragt, kommen die nämlich nirgends hin."
Doch um mit der Last fertig zu werden, die solche Lügen mit sich bringen, brauchen die Kinder Hilfe. "Deshalb ist es wichtig, dass sich die Kinder jemandem anvertrauen können", sagt Horst Storb. "Doch es gibt immer wieder Fälle, da denken die Kinder dann, sie würden 'petzen', was natürlich Unsinn ist."
Um ihnen das zu verdeutlichen, nutzen Storb und Backe das Bild von den hellen und dunklen Geheimnissen. "Ein helles Geheimnis ist zum Beispiel, wenn ihr alle wisst, was ein Freund zum Geburtstag bekommt", sagt Backe den Schülern in Langenfeld. "Das ist was Schönes, und wenn der- oder diejenige Geburtstag hat, löst es sich sowieso auf." So ein Geheimnis könne man getrost für sich behalten.
Anders sei das bei dunklen Geheimnissen, wie sie oft in Kettenbriefen vermittelt werden. "Wenn da steht, euch würde etwas passieren, wenn ihr jemandem von der Nachricht erzählt, dann ist das nicht nur Quatsch", sagt Backe. "Diese Lüge würde sich niemals auflösen, wenn ihr nicht mit jemandem darüber sprecht." Deshalb sei es vollkommen in Ordnung, darüber mit jemandem zu sprechen, seien es die Eltern, Lehrer oder eine andere Vertrauensperson.
Checkliste: Was tun, wenn man einen Kettenbrief bekommt?
💡 Durchatmen, Ruhe bewahren, Kopf einschalten
💡 ggf. einen Screenshot davon machen
💡 Löschen
💡 NICHT weiterleiten
💡 NICHT auf Links darin klicken
💡 NICHT den Anweisungen darin folgen
💡 Mit einer Vertrauensperson darüber sprechen
Wie verhalten sich Kinder bei einem Schockanruf richtig?
Opfer von Schockanrufen werden vor allem Kinder und ältere Menschen aus unterschiedlichen Gründen. Ältere Menschen, die beispielsweise nicht mehr so gut hören oder schon leicht verwirrt sind, fragen bei einem Anrufer, der sich als ihr Enkel ausgibt, vielleicht mit dem Namen des Enkels nach: "Peter, bist das Du?" Und schon hat der Anrufer eine wichtige Information.
"Bei Kindern ist das ähnlich", sagt Insa Backe. "Sie melden sich meist mit ihrem Namen, und schon hat der Täter einen ersten Anpack." Denn dann könne er die Kinder mit ihrem Namen ansprechen und unter Druck setzen. "Die Kinder sind dann so geschockt, dass sie auch auf weitere Fragen antworten. Und das verwenden die Anrufer dann wieder gegen sie." Zum Beispiel die Frage nach Geschwistern. Kaum hat der Täter den Namen der kleinen Schwester oder des kleinen Bruders, kann er nachdrücklich damit drohen, ihr oder ihm etwas anzutun.
"Deshalb rate ich den Kindern in der MausKlasse immer, Anrufe nicht anzunehmen, bei denen sie die Telefonnummer nicht kennen", sagt Backe. "Und wenn die Nummer unterdrückt wird, schon gar nicht."
Checkliste: Was tun, wenn man einen Schockanruf bekommt?
💡 Anrufe von unbekannten Nummern/Anonym nicht annehmen
💡 Sich nicht mit Namen melden
💡 Wenn doch, keine persönlichen Informationen preisgeben
💡 Auflegen
💡 Mit einer Vertrauensperson darüber sprechen
Wie können Eltern ihre Kinder schützen und unterstützen?
Einen wirklichen Schutz vor Kettenbriefen oder Schockanrufen gibt es nicht - weder für Kinder noch für Erwachsene. Wer ein eigenes Handy oder Smartphone besitzt, kann jederzeit unerwünschte Anrufe und Nachrichten bekommen.
Eltern können ihre Kinder aber trotzdem in einem gewissen Maße vor den Auswirkungen schützen und den Nachwuchs stark machen, damit er weiß, wie er sich in solchen Fällen richtig verhält.
Eine Möglichkeit, die Kinder vor nicht altersgerechten Inhalten im Netz zu schützen, bietet die Technik selbst. Bei den meisten Apple- und Android-Geräten können Apps so eingestellt werden, dass nur bestimmte Bilder, Audios und Videos angezeigt oder bestimmte Seiten aufgerufen werden können. Es empfiehlt sich also, das Handy der Kinder einzurichten, bevor sie es bekommen.
Worauf Sie dabei achten können und wie das Schritt für Schritt funktioniert, erfahren Sie hier:
"Viel wichtiger ist aber, die Kinder stark und fit für den Umgang mit dem Handy zu machen", sagt Horst Storb. Genau das passiert seiner Meinung nach aber noch immer viel zu wenig. Wenn es nach Storb ginge, würden sich Schulen einmal alle ein bis zwei Wochen im Unterricht mit dem Thema soziale und digitale Kompetenz beschäftigen.
Die Hauptbotschaft, die Martina Rautenberg den Eltern auf den Informationsabenden mitgeben will, ist, dass sie Verständnis für ihre Kinder haben sollen und sich in sie hineinversetzen. "Es gibt immer wieder Fälle, wo Eltern überhaupt nicht nachvollziehen können, warum ihre Kinder einen Kettenbrief weitergeleitet haben und warum sie sich ängstigen", erzählt sie. "Dann heißt es: 'Das ist doch total klar, dass das fake ist'."
Für solche Fälle hat Rautenberg einen Audio-Kettenbrief dabei - also eine Sprachnachricht, in der Drohungen und Anweisungen mit einer verzerrten Stimme vorgelesen werden. "Danach ist die Diskussion meist schnell beendet", sagt Rautenberg. "Das ist so gruselig, dass selbst die Erwachsenen oft Angst bekommen."
Ist das geklärt, kann sie den Eltern Tipps geben, wie sie ihre Kinder auf mögliche Schockanrufe und Kettenbriefe vorbereiten können. Und was zu tun ist, wenn die Kinder so eine Nachricht bekommen und dann mit ihren Eltern darüber reden wollen.
In diesem Fall sei wichtig, dass den Kindern dadurch kein Nachteil entstehe, sagt Horst Storb. "Also sollten die Eltern die Kinder auf keinen Fall bestrafen und ihnen beispielsweise das Handy wegnehmen", so der Polizeihauptkommissar.
Checkliste: Wie kann man Kinder vor Kettenbriefen schützen?
Vor dem ersten Kettenbrief:
💡 Die Kinder aufklären, dass es Kettenbriefe gibt
💡 Erklären, wie man sich richtig verhält, wenn man einen bekommt
Wenn die Kinder einen Kettenbrief bekommen haben:
💡 Verständnis zeigen
💡 Auf keinen Fall bestrafen (z. B. Handy wegnehmen)
💡 Kinder sind nicht Schuld, sondern werden benutzt