Ein Jahr nach dem Hamas-Überfall
01:44 Min.. Verfügbar bis 07.10.2026.
Ab 5.29 Uhr begann der Hamas-Terror: "Nichts ist, wie es vorher war"
Stand: 07.10.2024, 09:56 Uhr
Mit massivem Raketenbeschuss und bewaffneten Kämpfern begann die Terror-Organisation Hamas am 7. Oktober 2023 um 5.29 Uhr unserer Zeit einen Großangriff auf Israel. Seitdem hat sich in Israel und für Juden weltweit viel verändert.
Im WDR-Interview spricht der deutsch-israelische Psychologe Dr. Michael Naor darüber, wie sich das Leben für Juden in Deutschland und ihn selbst seitdem verändert hat. Naor wurde in Tel Aviv geboren, lebt und arbeitet aber seit dem Ende der 1980er Jahren in Düsseldorf. Zudem ist er Vizepräsident der Zionistischen Organisation Deutschlands (ZOD).
Im Interview diskutiert er auch, wie Israelkritik und Antisemitismus zusammenhängen und ob ein friedliches Leben in Sicherheit in Israel noch möglich ist.
WDR: Haben Sie noch Worte für das, was wir heute erleben, genau ein Jahr nach dem Überfall der Hamas?
Michael Naor: Das alles ist wirklich schwer in Worte zu fassen. Der 7. Oktober war für uns alle ein Bruch. Das war ein Schock und der Schock sitzt immer noch tief. Nichts ist, wie es vor dem 7. Oktober war. Die Fakten sind bekannt und ich denke, es ist nicht nötig, die noch zu wiederholen.
WDR: Haben Sie in den letzten Wochen jemals Gelegenheit gehabt, mit Menschen zu sprechen, die der palästinensichen Sache verpflichtet sind?
Naor: Ja, ich muss sagen, ich bin grundsätzlich jemand, der gerne mit Menschen spricht und ich respektiere immer auch andere Meinungen, auch wenn man sich nicht unbedingt überzeugen kann. Das muss auch nicht der Fall sein, solange man miteinander menschlich und respektvoll umgeht.
Der deutsch-israelische Psychologe Dr. Michael Naor aus Düsseldorf
Ich hatte in der Vergangenheit solche Gelegenheiten. Aber in den letzten Monaten hatte ich eine Gelegenheit, die sehr unangenehm war. Das war eine richtige Auseinandersetzung auf der Straße in Düsseldorf und zum Glück war die Polizei da. Ich bin den Polizisten auch dankbar, die mich da zu meiner eigenen Sicherheit weggeschickt haben. Das scheint mir derzeit mit bestimmten Gruppen gar nicht möglich zu sein.
WDR: Wie ist es in den Gemeinden? Fühlen sich Menschen da jetzt noch unsicherer als vor dem 7. Oktober 2023?
Naor: Absolut. Die jüdischen Einrichtungen sehen wie Hochsicherheitseinrichtungen aus. Das ist natürlich sehr traurig, dass das in Deutschland sein muss. Nicht nur in Deutschland natürlich. Einerseits sind wir natürlich dankbar, dass die Sicherheitsbehörden sich so viel Mühe, Energie und Manpower investieren. Auf der anderen Seite ist es natürlich sehr traurig, dass das sein muss. Es gibt immer noch Warnungen über erhöhte Gefahr für jüdische Einrichtungen.
WDR: Ich erlebe mich selbst beim Versuch zu analysieren, was wir da gerade in Israel, im Libanon, in Gaza sehen, bei der Schwierigkeit, jüdisches Leben vom israelischen Staatshandeln zu trennen. Können Sie nachvollziehen, dass es ausgeprägte Kritik gibt am Handeln Benjamin Netanyahus seit dem 7. Oktober 2023?
Naor: In einer Demokratie ist Kritik immer zulässig und legitim. Wenn unter dem Deckmantel einer sogenannten "Israelkritik" - übrigens auch ein Begriff, den es mit keinem anderen Land gibt - antisemitisches Gedankengut verbreitet wird, fängt da Antisemitismus an. Das Problem ist: Wir hatten vor einigen Jahren so einen Fall, ich meine, es war in Wuppertal, wo zwei arabisch stämmige Jugendliche eine Synagoge mit Molotow-Cocktails angegriffen haben. Der Richter hat sie freigesprochen, weil sie keine israelische Einrichtung dort vorgefunden haben. Also haben sie eine Synagoge angegriffen, was mit Israel eigentlich nichts zu tun hat.
Eine Synagoge, ein Gotteshaus in Deutschland hat nichts mit der Politik Israels zu tun. Aber das ist etwas, was viele Menschen verwechseln. Natürlich sind wir als Juden sehr verbunden mit dem Staat Israel. Wir alle haben dort Freunde, Verwandte und Familienangehörige. Man darf nicht vergessen, dass es der einzige jüdische Staat weltweit ist. Es gibt sehr viele christliche und muslimische Länder, aber nur einen einzigen jüdischen Staat, der sehr klein ist und ständig unter Beschuss und Angriff steht.
WDR: Sie sind dem Zionismus in seiner usprünglichen Prägung verpflichtet, der nicht einen nationalistischen, chauvinistischen Charakter hat, wie ihn manche radikale Rechte in Israel verstehen. Glauben Sie noch an den Gedanken, der am Anfang des Zionismus steht, dass es einen Schutzraum für jüdisches Leben gibt und das der Staat Israel ist? Oder ist dieser Traum seit einem Jahr zerstört?
Naor: Dieser Traum wurde sehr stark erschüttert. Es war ein Schock und ich persönlich konnte und wollte es damals nicht glauben. Aber der Traum ist immer noch da. Es gibt keine Alternative als einen Staat, wo Juden und Jüdinnen in Freiheit und Sicherheit leben können. Diese Garantie gibt es sonst nirgendwo auf der Welt.
WDR: Seite an Seite mit einem palästinensischen Volk mit eigenem Staatsgebiet?
Naor: Ja. Um David Ben-Gurion, den ersten Ministerpräsidenten von Israel, zu zitieren: "Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist." Es ist im Moment schwer daran zu glauben, das gebe ich zu. Aber irgendwann mal in der Zukunft, wenn vielleicht die Führung der Palästinenser gewechselt wurde, wenn die Terrororganisationen beseitigt wurden. Denn ich denke, mit dem Volk, mit den Menschen, mit den Palästinensern ist es durchaus möglich, zusammen in Frieden zu leben.
Das Interview führte Uwe Schulz am 7.10.2024 im WDR 5 Morgenecho.
Das Interview wurde für die Online-Version gekürzt und sprachlich angepasst. Hier könnt ihr es nachhören: