Er stand kurz vor seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten. Doch jetzt ist der prominente türkische Oppositionspolitiker Ekrem İmamoğlu in Istanbul festgenommen worden. Der Istanbuler Bürgermeister, der als wichtigster Rivale von Präsident Recep Tayyip Erdoğan gilt, wurde nach Angaben seines Büros am Mittwochmorgen nach einer Razzia in seinem Haus abgeführt. Zudem wurde İmamoğlus Bauunternehmen beschlagnahmt.
İmamoğlu schien seine Festnahme geahnt zu haben - kurz vorher verbreitete er über Instagram das Video, das oben in diesem Artikel zu sehen ist. Darin spricht er von Polizisten, die vor seiner Haustür stünden. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wird gegen İmamoğlu wegen Vorwürfen der Korruption, Erpressung und Unterstützung einer Terrorgruppe ermittelt. İmamoğlu bestreitet die Vorwürfe. Seine Partei CHP sprach von einem "Putschversuch gegen unseren nächsten Präsidenten".
Der türkische Justizminister Yilmaz Tunc wies Vorwürfe zurück, Präsident Erdoğan habe etwas mit der Festnahme zu tun. "Es ist anmaßend, die von der Justiz eingeleiteten Ermittlungen mit unserem Präsidenten in Verbindung zu bringen". Es gebe eine Gewaltenteilung, die Justiz nehme von niemandem Befehle entgegen. Es gelte nun das Ergebnis der unter Geheimhaltung geführten Ermittlungen abzuwarten.
In diesem Text:
Welche Rolle spielt Präsident Erdoğan?
Viele unabhängige Experten glauben, dass Erdoğan den beliebten Bürgermeister fürchtet. Er hatte 2019 überraschend die Bürgermeisterwahl in der Metropole am Bosporus gewonnen. Die Wahl wurde annulliert, doch bei der Wiederholung drei Monate später gewann İmamoğlu mit noch deutlicherem Vorsprung. Damit fügte er Erdoğan eine seiner schwersten Niederlagen zu. "Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei", sagte Erdoğan selbst einmal. Daher kommt die Verhaftung für viele Beobachter nicht überraschend:
Erdoğan hat heute den Putsch durchgeführt, den er lange geplant und vorbereitet hat und ließ seinen engsten Rivalen ins Gefängnis stecken. Can Dündar, türkischer Journalist im Exil

Der türkische Präsident eifere der Politik Wladimir Putins nach und versuche, mit dessen Taktiken an der Macht zu bleiben, glaubt Dündar. Erdoğan versucht immer wieder, politische Gegner durch Festnahmen aus dem Spiel zu nehmen. Vor allem Bürgermeister der prokurdischen Dem-Partei wurden zuletzt wegen Terrorermittlungen ihres Amtes enthoben und durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt.
"Wer Erdoğan gefährlich werden kann, kommt ins Gefängnis"
Die Bundesregierung verurteilte wie viele andere europäische Staaten die Festnahme des Oppositionspolitikers. Dies sei "ein schwerer Rückschlag für die Demokratie" in der Türkei, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts in Berlin. Aus Frankreich hieß es, die Festnahme könne "schwere Folgen für die türkische Demokratie haben".
Deutsche Politiker aus allen Reihen kritisieren die Geschehnisse am Bosporus. Erdoğan reagiere nach einem "Autokraten-Drehbuch", sagte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne). "Wer Erdoğan gefährlich werden kann, kommt ins Gefängnis".
Auch der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, Daniel Caspary, warf Erdoğan im WDR 5-Morgenecho am Donnerstag vor, die Justiz zu missbrauchen, um seinen schärfsten Rivalen auszuschalten: "Wir sehen schon seit vielen Jahren diese bedenklichen Entwicklungen in der Türkei, dass sich das Land unter Erdoğan wegbewegt von demokratischen Strukturen. (...) Unabhängig von der Frage, wie sich Putin verhält oder was Präsident Trump in den Vereinigten Staaten macht, scheint es ganz klar zu sein, es geht der AKP um die Frage, wer nach der nächsten Präsidentschaftswahl in der Türkei die Macht haben wird."
Eine weitere Annäherung der Türkei oder gar ein EU-Beitritt stünden so nicht zur Debatte:
Wer so vorgeht, der kann sich auf bessere Beziehungen mit der EU nicht verlassen. Sondern klar ist: Solange die Situation in der Türkei ist, wie sie ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass der Beitritt jemals auf der Agenda steht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass wir bei der Zollunion irgendwelche weiteren Verbesserungen oder Zugeständnisse an die Türkei machen - denn was die Türkei macht, spricht ganz klar gegen eine stärkere Zusammenarbeit, als wir sie in den letzten Jahren hatten. Daniel Caspary, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament
İmamoğlu verhaftet: "Es geht Erdoğan um Machterhalt". WDR 5 Morgenecho - Interview. 20.03.2025. 05:55 Min.. Verfügbar bis 20.03.2026. WDR 5.
İmamoğlu ist ein Hoffnungsträger der Jugend
Für viele Türken ist İmamoğlu der Hoffnungsträger für einen politischen Wandel. Die nächste Präsidentschaftswahl steht 2028 an, am nächsten Sonntag wollte die CHP İmamoğlu offiziell zu ihrem Kandidaten ernennen.
Trotz eines Versammlungsverbots gab es am Mittwochabend Proteste unter anderem in Ankara und in Istanbul. Allein dort versammelten sich nach Schätzungen 10.000 Menschen. Sie forderten Präsident Erdoğan zum Rücktritt auf und warfen ihm vor, durch die Festnahme seinen größten Rivalen ausschalten zu wollen.
Am Rande der Proteste kam es zu Ausschreitungen und Festnahmen, berichten Medien. Die türkische Polizei ermittelt zudem gegen mehrere Social-Media-Nutzer wegen ihrer Beiträge. 37 Personen seien bereits "gefasst" worden, schrieb der türkische Innenminister Ali Yerlikaya bei X.
Insgesamt seien 261 Accountinhaber wegen "provokativer Beiträge" ermittelt worden, 62 davon im Ausland. Gegen die verbliebenen werde noch vorgegangen. Den Nutzern werde etwa "Aufstachelung der Öffentlichkeit zu Hass und Feindseligkeit" und "Anstiftung zur Begehung einer Straftat" vorgeworfen.
Social Media in der Türkei eingeschränkt erreichbar
Insgesamt seien bislang mehr als 18 Millionen Beiträge auf X zu dem Thema veröffentlicht worden, so der Innenminister. Nutzer und Medien berichten jedoch seit Mittwoch von nur teilweise und kaum erreichbaren Portalen. Der in der Türkei bekannte Cyberrechts-Aktivist Yaman Akdeniz schrieb auf X, die Bandbreitendrosselung der Plattformen halte an.
So schätzt der Leiter der türkischen Redaktion von WDR COSMO die Lage ein
Auch in der türkischen Community in Deutschland schlägt das Thema hohe Wellen. Wir haben mit dem Leiter der türkischen Redaktion von WDR Cosmo, Tuncay Özdamar, gesprochen und ihn um eine Einschätzung gebeten.
WDR: Wie ist die Festnahme von Ekrem İmamoğlu einzuordnen?
Tuncay Özdamar: Das ist ein gewaltiger historischer Einschnitt - von den Dimensionen her vergleichbar mit dem Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016. Von Demokratie kann in der Türkei aktuell keine Rede sein. Ekrem İmamoğlu hat sehr gute Chancen, bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2028 Erdoğan abzulösen. İmamoğlu ist also der größte Rivale von Erdoğan.
Und er ist sehr populär, auch gerade bei den jungen Wählern. Das passt Erdoğan überhaupt nicht ins Konzept und er versucht jetzt auf seine Weise, İmamoğlu aus dem Rennen zu werfen.
WDR: Wird es jetzt in der Türkei einen allgemeinen Aufschrei geben?
Özdamar: In den sozialen Medien hat es bereits einen Aufschrei gegeben. Allerdings wurde sehr schnell der Zugang zu mehreren Online-Plattformen in der Türkei eingeschränkt, darunter X, YouTube und Instagram. Ansonsten halten sich öffentliche Proteste in Grenzen. Das liegt auch daran, dass das Büro des Gouverneurs der Provinz Istanbul eine viertägige Demonstrations-, Versammlungs- und Nachrichtensperre bis Sonntag verhängt hat. Ausgewählte Straßen in der Innenstadt wurden gesperrt, mehrere Bahnstationen sollen geschlossen werden. Begründet wurden die Maßnahmen mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Es ist ziemlich offensichtlich, dass Proteste verhindert werden sollen.
WDR: Wie geht es jetzt weiter - kann İmamoğlu gegebenenfalls doch noch zum Präsidentschaftskandidaten nominiert werden?
Özdamar: Es kommt jetzt auf İmamoğlus Partei CHP an. Sie muss sich am Sonntag entscheiden, ob sie İmamoğlu zum Präsidentschaftskandidaten aufstellt oder nicht. Dass Erdoğan İmamoğlu vor dieser Entscheidung festnehmen ließ, war Kalkül. Er wollte nicht den Anschein erwecken, als wenn ein offizieller Präsidentschaftskandidat festgenommen worden sei. Aber es braucht nicht viel Cleverness, um das Spiel von Erdoğan zu durchschauen. Ob er İmamoğlu nun vor oder nach der offiziellen Präsidentschaftskandidatur festnehmen ließ, macht letztlich keinen Unterschied. Es ging Erdoğan einzig darum, einen für ihn äußerst gefährlichen Rivalen auszubooten.
Das Interview führte Sabine Meuter.
Unsere Quellen:
- Interview mit Tuncay Özdamar (WDR Cosmo)
- Instagram-Video von Ekrem İmamoğlu
- Nachrichtenagenturen dpa AFP und Reuters
- Tagesschau.de