Wirtschaftsethiker Lin-Hi: Das Schnitzel ist in Deutschland unantastbar

Stand: 31.05.2023, 08:16 Uhr

Der Wirtschaftsethiker Nick Lin-Hi ist sicher: Laborfleisch ist unsere Zukunft. Es verbraucht weniger Ressourcen - und sorgt für "Fleischgeschmack ohne schlechtes Gewissen".

Wenn wir unsere Erde für unsere Kinder lebenswert halten wollen, müssen wir auf Labor-Fleisch umschwenken, sagt Nick Lin-Hi. Er ist Professor für Wirtschaft und Ethik an der Universität Vechta. Im Mittelpunkt seiner aktuellen Forschungstätigkeit steht die Zukunft der Ernährung, wobei er sich insbesondere mit der gesellschaftlichen Akzeptanz von kultiviertem Fleisch beschäftigt. Ein Gespräch über Fleisch und seine Alternativen.

WDR: Herr Lin-Hi, welche Bedeutung hat Fleisch für die Deutschen?

Nick Lin-Hi: In Deutschland gibt es gefühlt zwei Dinge, die man nicht anrühren darf: Das eine ist der Dienstwagen, das andere das Schnitzel. In beiden Fällen kommt es immer zu massiven Reaktionen, man schaltet in den Angriffsmodus. 

Die emotional aufgeladene Stimmung führt dann dazu, dass wir nicht den rational geführten Diskurs in der Öffentlichkeit hinbekommen, den wir bräuchten, um einen nachhaltigen Weg einzuschlagen. Wir verhaken uns im Klein-Klein. 

"Wenn wir so weitermachen, dann werden meine Kinder vermutlich schon ein Problem haben, hier noch eine lebenswerte Erde vorzufinden." Nick Lin-Hi

Warum reagieren wir denn so emotional?

Lin-Hi: Im Prinzip geht es um eine mentale Veränderungsbereitschaft. Viele Menschen tun sich sehr schwer damit, sich auf neue Dinge einzulassen. Denken Sie nur an die Einführung der Gurtpflicht in den 70ern. Eine Katastrophe für viele: Beschneidung der Freiheit,  das ist das Ende des Glücks, die ganze Welt geht unter. Das ist ein ganz typischer Mechanismus. Die älteren Generationen vertreten oftmals auch die Position: Das, was wir haben, haben wir uns erarbeitet - und das lassen wir uns nicht wegnehmen. 

Und dann sehen wir seit der Corona-Pandemie noch etwas: sehr krude Weltbilder. Es gibt Menschen, die betrachten zwar die Fakten, aber dann kommt noch etwas hinzu: ihr Bauchgefühl. Und das wird als gleichberechtigt gewertet. Das hat nichts mit einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft zu tun.

Denken Sie, dass sich unsere Ernährung ändern muss?

Lin-Hi: Unsere Ernährung macht knapp ein Drittel der menschengemachten Treibhausgase aus. Davon wiederum sind tierische Produkte für knapp 60 Prozent verantwortlich. Gleichzeitig decken sie aber nicht einmal 20 Prozent unseres Kalorienbedarfs. Da ist ein Missverhältnis drin. 

Wenn wir so weitermachen, dann werden meine Kinder vermutlich schon ein Problem haben, hier noch eine lebenswerte Erde vorzufinden. Wir müssen uns also dringend darum kümmern, dass wir eine nachhaltige Entwicklung sicherstellen. 

"Wir rechnen damit, dass die Fleisch-Nachfrage 2050 nochmals 60 Prozent höher sein wird als heute. Mindestens." Nick Lin-Hi

Wie?

Lin-Hi: Wir haben zwei Möglichkeiten. Die erste ist, dass wir unseren Fleischkonsum massiv reduzieren. Allerdings sind die meisten Menschen nicht bereit, sich im Namen der Nachhaltigkeit permanent einzuschränken. Auf der globalen Ebene passiert auch genau das Gegenteil. Wir rechnen damit, dass die Fleisch-Nachfrage 2050 nochmals 60 Prozent höher sein wird als heute. Mindestens. Und das ist nicht mehr verkraftbar. 

Sie sprachen von zwei Möglichkeiten. Was wäre Nummer 2? 

Lin-Hi: Radikale Innovationen! Wenn wir Verhaltensweisen nicht ändern können, dann brauchen wir Produkte mit einem drastisch reduzierten ökologischen Fußabdruck. Ein Beispiel dafür ist In-Vitro-Fleisch, also kultiviertes Fleisch aus dem Labor. Zu betonen ist, dass es sich hierbei um echtes Fleisch handelt und damit genauso schmeckt und aussieht wie das, was wir heute essen. 

Welche Vorteile hätte In-Vitro-Fleisch denn für die Umwelt?

Lin-Hi: Optimistische Studien prognostizieren im besten Fall ein Einsparpotential von 90 Prozent: 90 Prozent weniger Flächenverbrauch, 90 Prozent weniger Wasserverbrauch, 90 Prozent weniger Emissionen. Und In-Vitro-Fleisch könnte auch dabei helfen, kognitive Dissonanz aufzulösen. 

Was bedeutet das?

Lin-Hi: Wenn ich ein Schnitzel vor mir habe, habe ich erst einmal Appetit. Wenn ich aber dann darüber nachdenke, wo das Schnitzel herkommt, wie das Tier gelebt hat und wie der ökologische Fußabdruck ist - dann wird mir mein Schnitzel nicht mehr schmecken. 

Bislang habe ich zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: Ich werde Veganer. Oder: Ich rede mir ein, dass die Sache mit dem Schnitzel nicht so schlimm ist und dass das Tier bestimmt glücklich war. Dann bin ich wieder mit mir im Reinen. Mit In-Vitro-Fleisch können wir einen dritten Mechanismus anbieten: Fleischgeschmack ohne schlechtes Gewissen.

"In der Landwirtschaft droht uns einer zweiter Tesla-Moment." Nick Lin-Hi

Welche Bedeutung haben Fleisch-Innovationen wirtschaftlich?

Lin-Hi: Es ist ein Wachstumsmarkt. Allerdings sehen wir, dass wir uns in Deutschland eher schwer mit solchen Innovationen und neuen Technologien tun. Wir stehen mit einem Fuß auf der Bremse. Unser Zeitfenster, um als Standort Deutschland eine Rolle in diesem Markt zu spielen, wird immer kleiner. Bis die Musik irgendwann in anderen Ländern spielt. 

Ich vergleiche das gerne mit der E-Mobilität. Da spielt die Musik auch nicht hierzulande – im Autoland Deutschland. Stattdessen hecheln wir hinterher. Wir sind nicht innovativ genug. Und das wird uns langfristig unseren Wohlstand kosten. Und in der Landwirtschaft droht uns ein zweiter Tesla-Moment.

Sind andere Länder denn weiter? Zum Beispiel beim In-Vitro-Fleisch?

Lin-Hi: In Singapur ist kultiviertes Fleisch seit 2020 zugelassen. In den USA gehe ich davon aus, dass es nicht mehr allzu lange dauert. Vielleicht klappt es schon bis Ende 2024. In Europa wird es am längsten dauern. Da würde ich nicht darauf wetten, dass es bis 2030 noch klappt. 

Die Einführung auf anderen Märkten wird aber auch Auswirkungen auf die Weltmarktpreise haben. Konventionelles Tierfleisch, selbst mit unseren massiven Subventionen, ist irgendwann nicht mehr konkurrenzfähig. Die Herstellung im Labor ist wesentlich effizienter. Rechnen wir dann noch die ökologischen Kosten drauf, ist das Thema sowieso gegessen. Diese Entwicklung können wir nicht stoppen. Die Zukunft lässt sich nicht aufhalten.

Die Fragen stellte Claudia Wiggenbröker.

Sind wir in Deutschland auf dem Weg in eine Zukunft ohne Fleisch? Wie sich unsere Ernährungsgewohnheiten wohl entwickeln werden, lesen Sie hier: