Erdbeben in der Türkei und Syrien: Darum ist die Region so gefährdet

Stand: 08.02.2023, 15:28 Uhr

Die schweren Erdbeben im Südosten der Türkei und im Nordosten Syriens haben eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Was macht die Region so anfällig für Naturkatastrophen?

Von Andreas Poulakos, Saida Belaatel und Oliver Scheel

Nach offiziellen Angaben sind bei den Beben am frühen Montagmorgen in den betroffenen Ländern mehr als 11.200 Menschen getötet worden. Mehr als 55.000 Menschen wurden verletzt. Es wird befürchtet, dass die Opferzahl weiter steigen wird.

Warum sind Erdstöße in der Region so gefährlich? Wie wird den Menschen geholfen? Fragen und Antworten.

Warum ist die Gefahr für starke Beben in der Region so hoch?

Die Türkei und ihre Anrainerstaaten sind immer wieder von schweren Erdbeben betroffen. Der Grund sind geologische Vorgänge tief unter der Erde. Denn in der Region stoßen mehrere Kontinentalplatten aufeinander: "Die arabische Platte schiebt sich nordwärts in die eurasische Platte und zwingt die dazwischenliegende anatolische Platte jedes Jahr zwei Zentimeter weiter nach Westen", erklärt David Rothery von der "Open University" in Milton Keynes in England. Die Spannung baut sich über Jahre auf - und entlädt sich dann plötzlich auf einen Schlag in Form eines Bebens.

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Wie gefährdet ist die Millionenmetropole Istanbul?

Die Gefahr für Beben beschränkt sich nicht auf den Schauplatz der jüngsten Beben. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung lebt faktisch in ständiger Erdbebengefahr. Besonders gefährdet ist dabei auch die Region um Istanbul.

Seit vielen Jahrzehnten warnen Geologen vor einem Großbeben in der Metropole am Marmara-Meer. Der Grund liegt in der sogenannten nordanatolischen Verwerfung: Das seismisch aktive Gebiet verläuft direkt durch die Region Istanbul. Wann das Beben kommt, kann niemand vorhersagen. Es könnte sich in zehn oder 20 Jahren ereignen – oder schon morgen. Für viele Experten stellt sich nicht die Frage, dass das Beben kommt, sondern wann.

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Ab welcher Stärke ist ein Beben gefährlich?

Das weltweit stärkste jemals gemessene Beben hatte eine Magnitude von 9,5 in Chile im Jahr 1960. Weltweit treten pro Jahr etwa 50.000 Beben der Stärke 3 bis 4 auf. Etwa 800 haben die Stärken 5 oder 6, hinzu kommt etwa ein jährliches Großbeben mit dem Wert 8. Die Stärke des Bebens ist aber nicht allein ausschlaggebend, wie heftig die Auswirkungen sind. Erdbeben können sich je nach Dauer, Bodenbeschaffenheit und Bauweise unterschiedlich auswirken.  

Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Magnituden seien dabei gewaltig, erklärte WDR-Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar in der ARD-Sendung "Hart aber fair". "Das ist eine logarithmische Skala." Übersetzt heiße das: "Wenn ich ein Erdbeben der Stärke 5 habe und ein Erdbeben der Stärke 6, dann hat das mit der Stärke 6 zehn Mal mehr Energie als 5." Ein Beben der Stärke 7 sei bereits 100 Mal stärker als eines der Stärke 5.

Für die beiden jüngsten Erdbeben gab die US-Erdbebenwarte USGS Stärken von 6,7 und 7,8 an.

Wann gab es zuletzt Erdbeben in der Region?

Im Oktober 2020 erschütterte ein Beben die Millionenstadt Izmir an der Ägäisküste, wobei etwa 100 Menschen ihr Leben verloren. Die schwerste Naturkatastrophe in der Geschichte der Türkei ereignete sich 1999. 17.000 Menschen starben bei einem Beben der Stärke 7,4 in der nordwestlichen Stadt İzmit.

Die jüngsten Erdstöße waren laut dem Leiter des Nationalen Erdbebenzentrums, Raed Ahmed, das stärkste Beben in Syrien seit 1995.

Was macht Beben in den betroffenen Städten so gefährlich?

In der wirtschaftlich schwachen Region sind viele Gebäude nicht ausreichend gegen Erdbeben abgesichert - dazu gehören auch viele Neubauten. Nach dem schweren Beben im Jahr 1999 wurde in der Türkei zwar Geld in die nachträgliche Absicherung von Gebäuden investiert - außerhalb der Metropolen gibt es in dieser Hinsicht aber noch viel Handlungsbedarf.

Wie ist die aktuelle Situation in den betroffenen Gebieten?

Verheerend. Allein in der Türkei stürzten Tausende Gebäude ein und begruben die schlafenden Bewohner unter sich. Die Bergungsarbeiten dauern zwar an - mit jeder verstrichenen Stunde sinken aber die Chancen, Verschüttete noch lebend aus den Trümmern zu retten. Temperaturen um den Gefrierpunkt machen den Überlebenden im Katastrophengebiet zusätzlich zu schaffen, viele haben kein Dach mehr über dem Kopf. Präsident Recep Tayyip Erdogan sprach vom schlimmsten Erdbeben seit 1939, als im ostanatolischen Erzincan 33.000 Menschen starben.

Wie geht es den Menschen in Syrien?

In Syrien ist die Lage besonders unübersichtlich. Die Angaben zur Zahl der Toten und Verletzten variieren stark. Es wird befürchtet, dass die Folgen des Bebens noch weit schlimmer sein werden als in der Türkei. Durch den Bürgerkrieg gelangen kaum Hilfsgüter ins Land, außerdem fehlt schweres Gerät, um die Trümmer zu bewegen.

Kamal Sido, Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker, erklärte am Montag: "Die Bundesregierung muss die Türkei dazu drängen, ihre Angriffe auf Nordsyrien einzustellen, damit nach Überlebenden gesucht werden kann." Zudem müssten die Grenzen zur Türkei geöffnet bleiben, damit die internationale Hilfe auch nach Syrien gelangen kann.

Auch Borhan Akid, WDR-Mitarbeiter syrischer Herkunft, berichtet, dass sich Menschen in Syrien sorgen, dass die Hilfen nur die Türkei erreichen werden.

Können Betroffene vorübergehend nach Deutschland kommen?

Trotz der Krisensituation gilt nach wie vor, dass Menschen aus Syrien und der Türkei für die Einreise nach Deutschland ein Visum brauchen. Das Auswärtige Amt teilte dem WDR aber mit, dass im Visumverfahren die "schwierige humanitäre Situation vor Ort" berücksichtigt werde. Betroffene, die für insgesamt bis zu 90 Tagen bei Angehörigen in Deutschland unterkommen möchten, können ein Besuchsvisum beantragen. 

Gibt es kein Frühwarnsystem?

"Wir können Erdbeben nicht auf den Punkt vorhersagen", sagte Seismologe Marco Bonhoff dem WDR. Überraschend sei das aktuelle Beben für Experten dennoch nicht gewesen. "An dieser Erdbebenzone waren große Beben überfällig." Die geologischen Voraussetzungen für Erdbeben seien in der Region vorhanden. Gleichzeitig habe es dort fast seit 1.000 Jahren kein großes Beben mehr gegeben. Dass die Gefahr von Jahr zu Jahr steige - das sei Experten schon lange klar gewesen.