In jüdischen Restaurants, in Geschäften, in Bäckereien – überall bekommen Journalisten derzeit das Gleiche zu hören. "Bei uns drehen? Interviews führen? Lieber nicht", heißt es. Die Angst ist einfach zu groß, man möchte schlicht nicht auffallen oder im Mittelpunkt stehen. Nur wenige Menschen jüdischen Glaubens sind bereit darüber zu sprechen, wie sie sich gerade fühlen.
Zum Beispiel Anton aus Essen. Der 29-Jährige, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, erzählt dem WDR, dass er und seine Frau derzeit unruhige Zeiten erleben. Mehrfach schon hätten sie ihr Kind aus Angst vor Anschlägen nicht in den jüdischen Kindergarten geschickt. "Es geht um mein Kind, das möchte ich schützen“, sagt Anton eindringlich.
Angst und Verunsicherung sind an der Tagesordnung
Angst, Verunsicherung – solche Gefühle kommen nicht von ungefähr. Sie rühren her aus mit Davidsternen beschmierten Häusern oder antisemitischem Entgleisungen auf Pro-Palästina-Demonstrationen. Schlimmes ist auch Cyrus Overbeck widerfahren. Vor dem Atelier des Duisburger Künstlers mit jüdischen Wurzeln waren unlängst rund 30 Zettel mit der israelischen Fahne auf dem Boden verteilt, auf den Zetteln die Worte: "Tretet darauf auf die Flagge, spuckt darauf, verbrennt die Flagge: Free Palestine." Was knallharter Antisemitismus ist. "Ich bekam weiche Knie, mir wurde schlecht und ich habe angefangen zu zittern“, sagt Overbeck dem WDR über sein Empfinden nach dem Fund der Zettel. Wer die Blätter vor dem Atelier verteilt haben soll – unklar. Die Polizei ermittelt unter Hochdruck.
Overbeck fasst die Flugblätter als konkrete Bedrohung für sich und seine Familie auf. "Ich denke, dass nach dem Holocaust gerade wir in Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber dem Staate Israel haben - und wenn jetzt Flugblätter verteilt werden "Tretet auf die Flagge“ und dieser Konflikt auch noch nach Deutschland getragen wird und wir so lebendigen Antisemitismus nach Auschwitz direkt vor Ort erleben, dann verunsichert mich das sehr."
Die jüdische Schriftstellerin Deborah Feldman lebt in Berlin und merkt derzeit, was es bedeutet, sich in Deutschland nicht mehr sicher zu fühlen: "Ich bemerke das in den Angriffen und Drohungen, die ich erhalte. Ich bemerke das, indem ich meinem Sohn sage: Pass bloß auf, halte dich nicht in Orten auf, die zur Zielscheibe werden können. Lass niemanden wissen, woher du kommst, wer du bist. Sei wachsam, sage ich ihm, erwarte immer das Schlimmste."
Sie selbst bleibe weitgehend zu Hause. Und sie wissen auch von palästinensischen Freunden, dass sie das Gleiche tun, dass sie sich genauso verstecken. "Und ich frage mich, um diese Ironie, dass in Deutschland wieder Minderheiten ihre Identitäten verstecken müssen und zwar auf beiden Seiten, was in diesem Land alles falsch gelaufen ist, dass es dazu wieder kommt."
Habeck: Satz "Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson" war nie Leerformel
Worte, die aufrütteln und erschüttern. Auch Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) zeigt sich in einem fast zehnminütigen Video, das über die Plattform X (vormals Twitter) am Mittwochabend verbreitet und seitdem millionenfach geklickt wurde, zutiefst betroffen über den in Deutschland grassierenden Antisemitismus.
Bei "schmerzhaften Gesprächen" mit der Jüdischen Gemeinde Frankfurt habe er erfahren, dass Kinder nun Angst hätten, zur Schule und in Sportvereine zu gehen und ihre Religionszugehörigkeit etwa durch das Tragen der Davidstern-Kette zu zeigen. Gemeindemitglieder trauten sich nicht mehr, in ein Taxi zu steigen und verzichteten auf den Absender auf Briefumschlägen, um die Empfänger zu schützen. "Der Satz 'Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson' war nie eine Leerformel und er darf auch keine werden", betont Habeck.
Vizekanzler kündigt scharfe Konsequenzen für "Israelhasser" an
Mit Blick auf "Israelhasser", namentlich Unterstützer der radikalislamischen Hamas in Deutschland, kündigt Habeck scharfe Konsequenzen an. "Antisemitismus ist in keiner Gestalt zu tolerieren, in keiner. Das Ausmaß bei den islamistischen Demonstrationen in Berlin und in weiteren Städten Deutschlands ist inakzeptabel und braucht eine harte politische Antwort." Das Verbrennen von israelischen Fahnen bei Demonstrationen sowie "das Preisen des Terrors der Hamas" seien Straftaten, unterstreicht Habeck.
Kleine Gesten der Anteilnahme und des aufeinander Aufpassens
Das sind klare Worte, die Habeck spricht. Und die breite Masse in Deutschland – tut sie genug in Sachen Antisemitismus? Tausende Menschen hierzulande nehmen zwar an Pro-Israel-Demos teil. Es würde den hierzulande lebenden Juden helfen, wenn noch mehr Menschen auf die Straße gehen und sich klar äußern würden, sagt Bettina Levy vom Vorstand der Synagogengemeinde Köln dem WDR.
Wenn es dabei kein "Ja, aber" gebe. "Und auch die kleinen Gesten der Anteilnahme, Besorgnis und das aufeinander Aufpassen, das tut schon sehr gut“, betont Levy. Das passiere auch in privaten Freundeskreisen und befreundeten Vereinen. "Wir wünschen uns das und wir brauchen das, und auch die Gesellschaft braucht das in der breiten Masse."
Über dieses Thema berichtet der WDR am 2.11.2023 auch in der "Aktuellen Stunde" im WDR Fernsehen.
Unsere Quellen:
- Interviews in der "Aktuellen Stunde"
- Robert Habeck auf der Plattform "X"