Nach dem Anschlag in Solingen mit drei Toten und acht Verletzten werden immer mehr Hintergründe zum mutmaßlichen Täter, einem 26-Jährigen aus Syrien bekannt. Derweil wird in der Politik über Konsequenzen diskutiert. Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) fordert eine Reihe von Gesetzesänderungen - vor allem mit dem Ziel, Zuwanderung zu begrenzen.
- Wie ist der aktuelle Stand der Aufarbeitung im NRW-Fluchtministerium?
- Was hätte laut Gesetz mit dem mutmaßlichen Täter passieren sollen?
- Warum kam die Abschiebung nach Bulgarien nicht zustande?
- Warum wurde der Mann nicht nach Syrien abgeschoben?
- Was genau besagt der subsidiäre Schutz?
- Wie realistisch ist ein Aufnahmestopp für Menschen aus Syrien oder Afghanistan?
- Über welche Forderungen in der Migrationspolitik wird jetzt außerdem diskutiert?
Wie ist der aktuelle Stand der Aufarbeitung im NRW-Fluchtministerium?
Fluchtministerin Josefine Paul (Grüne) hat sich am späten Montagnachmittag auf WDR-Anfrage zum "akuten Aufklärungsprozess" in ihrem Ministerium geäußert:
Die Ministerin stellte eine "lückenlose Aufklärung" in Aussicht, verwies aber gleichzeitig darauf, dass ein Rückführungsprozess "ein äußerst komplexer Vorgang" sei, "an dem unterschiedliche Ebenen und Behörden beteiligt sind".
Zu Details äußerte sich das Ministerium nicht, forderte aber, dass Behörden "künftig noch besser verzahnt und abgestimmter arbeiten" und dass eine "Arbeitsgruppe zwischen Bund, Ländern und Kommunen, die die aktuellen Hürden und Hemmnisse im Rückführungsprozess und hier insbesondere in der Dublin-Überstellung präzise benennt".
Was hätte laut Gesetz mit dem mutmaßlichen Täter passieren sollen?
Den sogenannten Dublin-Regeln zufolge ist der EU-Staat für den Asylantrag zuständig, wo der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat. Im Falle des mutmaßlichen Täters war das offenbar Bulgarien. Dort wurde 2022 seine Einreise registriert, dort hätte sein Asylverfahren abgewickelt werden müssen.
Allerdings reiste der Mann nach Deutschland weiter, wo er am 25.12.2022 ankam und in Bielefeld Antrag auf Asyl stellte. In einem solchen Fall kann ein Übernahmeersuchen an das Land gestellt werden, in dem die Person zuerst registriert wurde. Statt Deutschland wäre in diesem Fall also Bulgarien für das Asylverfahren zuständig gewesen.
Nach Informationen von WDR und NDR soll der mutmaßliche Täter von Solingen Anfang 2023 seinen sogenannten Dublin-Bescheid zur Überstellung nach Bulgarien erhalten haben. Die bulgarischen Behörden stimmten auch einem Übernahmegesuch aus Deutschland zu. Der Syrer klagte gegen den Bescheid vor dem Verwaltungsgericht Minden.
Warum kam die Abschiebung nach Bulgarien nicht zustande?
Für eine solche Abschiebung gibt es bestimmte Fristen. Im Normalfall sind das sechs Monate. Wird diese so genannte "Überstellungsfrist" überschritten, geht die Zuständigkeit vom Einreiseland auf das aktuelle Aufenthaltsland über - in diesem Fall wäre dann also nicht mehr Bulgarien zuständig gewesen, sondern nun Deutschland.
Wenn ein Asylbewerber aber untertaucht und so der Abschiebung entgeht, kann die "Überstellungsfrist" allerdings vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf 18 Monate verlängert werden. Im Fall des mutmaßlichen Täters ist das offenbar nicht passiert, obwohl er am geplanten Tag der Abschiebung nach Bulgarien am 3. Juni 2023 nicht von der örtlichen Ausländerbehörde angetroffen wurde. Nach Informationen von WDR und NDR sollen sich die Mitarbeiter aber auch nicht bei Nachbarn oder beim Wachdienst nach seinem Aufenthaltsort erkundigt haben.
Laut NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sei er ab er nicht im rechtlichen Sinne untergetaucht gewesen. Er sei an dem Tag, an dem er in einer Flüchtlingsunterkunft in Paderborn abgeholt werden sollte, schlicht nicht dagewesen. "Ansonsten war er immer und häufig in dieser Einrichtung", sagte Reul in der ARD. Ob es weitere Versuche gegeben hat, den Mann nach Bulgarien abzuschieben, ist derzeit unklar. Eine Ausschreibung zur Festnahme sei laut "Spiegel" aber unterblieben, weil der Mann als unauffällig galt.
Dass Rückführungen scheitern, ist eher die Regel als Ausnahme: Laut BAMF-Statistik gab es 2023 fast 8.000 Übergabeversuche an Bulgarien, aber nur 266 Mal klappte eine solche Rücküberstellung. Weder das BAMF, das für die Durchführung von Asylverfahren zuständig ist, noch die Ausländerbehörde Bielefeld, deren Aufgabe die Rückführung wäre, äußerten sich zunächst auf Nachfragen.
Warum wurde der Mann nicht nach Syrien abgeschoben?
Die Sechs-Monats-Frist für die Abschiebung nach Bulgarien war laut dpa am 20. August 2023 abgelaufen, womit Deutschland das Asylverfahren von Bulgarien übernahm. Der mutmaßliche Täter soll sich vier Tage danach bei den Behörden gemeldet haben. Dies deute darauf hin, dass er gut über die Fristen und seine Rechte informiert gewesen sei, hieß es laut dpa aus Behördenkreisen.
Eine Abschiebung nach Bulgarien war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Auch in seine Heimat Syrien konnte der Mann, der laut "Spiegel" im September 2023 in eine Flüchtlingsunterkunft nach Solingen überstellt wurde, nicht abgeschoben werden, da ihm Ende 2023 subsidiärer Schutz gewährt wurde.
Was genau besagt der subsidiäre Schutz?
Wenn einem Menschen in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht und dort kein Schutz geboten wird, kann der Status des "subsidiären Schutzes" verliehen werden. Das ist vor allem bei Ländern der Fall, in denen Todesstrafen verhängt und Foltermethoden ausgeübt werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gewährt Menschen aus Syrien wegen des Bürgerkriegs im Land regelmäßig subsidiären Schutz.
Allerdings mehrten sich zuletzt Stimmen, die dafür plädieren, die Sicherheitslage in Syrien differenzierter einzuschätzen und den subsidiären Schutzstatus nicht pauschal auszusprechen. So drohe in bestimmten Regionen des Landes keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben, urteilte beispielsweise das Oberverwaltungsgericht Münster im Juli 2024. Auch die Asylagentur der EU unterteilt Syrien in gefährliche Regionen sowie in solche, in denen das Risiko, zu Schaden zu kommen, eher gering sei. Laut "Spiegel" wurde der mutmaßliche Täter in Deir al-Sor geboren - einer Region, die laut EU zu den gefährlichsten in Syrien gehört.
Wie realistisch ist ein Aufnahmestopp für Menschen aus Syrien oder Afghanistan?
CDU-Chef Friedrich Merz schlug einen generellen Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan vor - eine Forderung, die auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) befürwortete: "Ja, ich halte das für richtig", sagte er im WDR.
Die Bundesregierung hält dies jedoch für nicht verfassungsgemäß. "Das würde gegen das Grundgesetz und mutmaßlich auch gegen EU-Menschenrechtsverordnungen verstoßen", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag in Berlin. Auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert wies die Forderung zurück. Man müsse sich vielmehr anschauen, warum die Rückführung des mutmaßlichen Täters nach Bulgarien nicht geklappt habe.
Über welche Forderungen in der Migrationspolitik wird jetzt außerdem diskutiert?
Am Dienstag formulierte Oppositionsführer Merz seine Forderung konkreter und sprach nicht mehr nur von Afghanen und Syrern. Zuvor hatte er sich mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) getroffen, um ihm Konsequenzen nach den Attentaten von Mannheim und Solingen vorzuschlagen. In einer Pressekonferenz erklärte Merz, man müsse eine Reihe von Gesetzen ändern, darunter das Aufenthaltsgesetz.
Das betreffe gleich den ersten Paragraf, in dem es derzeit heißt: "Das Gesetz dient der Steuerung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland." Statt Steuerrung müsse es um "Begrenzung" gehen, sagte Merz. Denn "genau um diese Frage" gehe es:
Ein weiterer konkreter Vorschlag zur Gesetzesänderung von Merz: Künftig soll auch die Bundespolizei Anträge für den Abschiebegewahrsam stellen dürfen. Momentan dürften das nur die Ausländerbehörden.
Bundeskanzler Scholz sagte wenig später, es sei richtig, dass der CDU-Chef bei der Reduzierung der irregulären Migration eine Zusammenarbeit anbiete. Er sei dafür offen. Aber genauso richtig sei, das entlang der Prinzipien zu machen, die für die Demokratie sowie die Art und Weise, wie das Land gestaltet werden solle, wichtig seien. Dabei verwies Scholz auf internationale Verträge, EU-Regeln und das Grundgesetz.
Unsere Quellen:
- Recherchen von WDR und NDR
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP, EPD
- Friedrich Merz (CDU) in der Bundespressekonferenz
- spiegel.de
- focus.de
- bild.de
- Asylagentur der EU
- Verwaltungsgericht Minden
- Oberverwaltungsgericht Münster