Mutmaßlicher Täter von Solingen: Warum war er noch in Deutschland?

Stand: 26.08.2024, 15:29 Uhr

Der mutmaßliche Messerangreifer von Solingen sollte 2023 abgeschoben werden. Warum geschah das nicht? Haben Behörden versagt?

Von Ingo Neumayer

Nach dem Anschlag in Solingen mit drei Toten und acht Verletzten werden immer mehr Hintergründe zum mutmaßlichen Täter, einem 26-Jährigen aus Syrien bekannt. Der Mann hätte laut Gesetz gar nicht mehr in Deutschland sein sollen.

Was hätte laut Gesetz mit dem mutmaßlichen Täter passieren sollen?

Nach den sogenannten Dublin-Regeln ist in der Regel der EU-Staat für den Asylantrag zuständig, wo der Schutzsuchende zuerst europäischen Boden betreten hat. Im Falle des mutmaßlichen Täters war das offenbar Bulgarien. Dort wurde 2022 seine Einreise registriert.

Allerdings reiste der Mann nach Deutschland weiter, wo er am 25.12.2022 ankam und in Bielefeld Antrag auf Asyl stellte. In einem solchen Fall kann ein Übernahmeersuchen an das Land gestellt werden, in dem die Person zuerst registriert wurde. Statt Deutschland wäre in diesem Fall Bulgarien für das Asylverfahren zuständig gewesen.

Nachdem das Übernahmeersuchen von Bulgarien akzeptiert wurde, hätte der Syrer ab diesem Zeitpunkt dorthin abgeschoben werden sollen. Laut "Spiegel" bekam der Mann im Februar 2023 Bescheid über seine bevorstehende Abschiebung nach Bulgarien. Dagegen soll er im März 2023 Klage beim Verwaltungsgericht Münster eingereicht haben.

Warum kam die Abschiebung nach Bulgarien nicht zustande?

Für eine solche Abschiebung gibt es bestimmte Fristen. Im Normalfall sind das sechs Monate. Wird diese so genannte "Überstellungsfrist" überschritten, geht die Zuständigkeit vom Einreiseland auf das aktuelle Aufenthaltsland über - in diesem Fall wäre also nicht mehr Bulgarien zuständig gewesen, sondern Deutschland.

Wenn ein Asylbewerber untertaucht und so der Abschiebung entgeht, kann die "Überstellungsfrist" allerdings auf 18 Monate verlängert werden. Im Fall des mutmaßlichen Täters ist das offenbar nicht passiert, owohl er am geplanten Tag der Abschiebung nach Bulgarien am 3. Juni 2023 nicht von der örtlichen Ausländerbehörde angetroffen wurde.

Unklar, ob es weitere Abschiebe-Versuche gab

Laut NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sei er nicht im rechtlichen Sinne untergetaucht gewesen. Er sei an dem Tag, an dem er in einer Flüchtlingsunterkunft in Paderborn abgeholt werden sollte, schlicht nicht dagewesen. "Ansonsten war er immer und häufig in dieser Einrichtung", sagte Reul in der ARD.

Ob es weitere Versuche gegeben hat, den Mann nach Bulgarien abzuschieben, ist derzeit unklar. Eine Ausschreibung zur Festnahme sei laut "Spiegel" unterblieben, weil der Mann als unauffällig galt.

Warum wurde der Mann nicht nach Syrien abgeschoben?

Die Sechs-Monats-Frist für die Abschiebung nach Bulgarien war laut dpa am 20. August 2022 abgelaufen. Der mutmaßliche Täter soll sich vier Tage danach bei den Behörden gemeldet haben. Dies deute darauf hin, dass er gut über die Fristen und seine Rechte informiert gewesen sei, hieß es laut dpa aus Behördenkreisen.

Eine Abschiebung nach Bulgarien war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Auch in seine Heimat Syrien konnte der Mann, der laut "Spiegel" im September 2023 in eine Flüchtlingsunterkunft nach Solingen überstellt wurde, nicht abgeschoben werden, da ihm Ende 2023 subsidärer Schutz gewährt wurde.

Was genau besagt der subsidiäre Schutz?

Wenn einem Menschen in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht und dort kein Schutz geboten wird, kann der Status des "subsidiären Schutzes" verliehen werden. Das ist vor allem bei Ländern der Fall, in denen Todesstrafen verhängt und Foltermethoden ausgeübt werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gewährt Menschen aus Syrien wegen des Bürgerkriegs im Land regelmäßig subsidiären Schutz.

Allerdings mehrten sich zuletzt Stimmen, die dafür plädieren, die Sicherheitslage in Syrien differenzierter einzuschätzen und den subsidären Schutzstatus nicht pauschal auszusprechen. So drohe in bestimmten Regionen des Landes keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben, urteilte beispielsweise das Oberverwaltungsgericht Münster im Juli 2024. Auch die Asylagentur der EU unterteilt Syrien in gefährliche Regionen sowie in solche, in denen das Risiko, zu Schaden zu kommen, eher gering sei. Laut "Spiegel" wurde der mutmaßliche Täter in Deir al-Sor geboren - einer Region, die laut EU zu den gefährlichsten in Syrien gehört.

Wie realistisch ist ein Aufnahmestopp für Menschen aus Syrien oder Afghanistan?

CDU-Chef Friedrich Merz schlug einen generellen Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan vor - eine Forderung, die auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) befürwortete: "Ja, ich halte das für richtig", sagte er im WDR.

Die Bundesregierung hält dies jedoch für nicht verfassungsgemäß. "Das würde gegen das Grundgesetz und mutmaßlich auch gegen EU-Menschenrechtsverordnungen verstoßen", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag in Berlin. Auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert wies die Forderung zurück. Man müsse sich vielmehr anschauen, warum die Rückführung des mutmaßlichen Täters nach Bulgarien nicht geklappt habe. 

Unsere Quellen:

  • Nachrichtenagenturen dpa, AFP, EPD
  • spiegel.de
  • focus.de
  • bild.de
  • Asylagentur der EU
  • Oberverwaltungsgericht Münster