Guter Rat - Theodor Heuss: Wir brauchen Kompromisse

Wer legitimiert das Grundgesetz?

Stand: 23.05.2019, 12:32 Uhr

Theodor Heuss in der Rhein-Neckar-Zeitung vom 12. Februar 1949

Die interfraktionelle Verständigung über das Grundgesetz, die in dem schier reibungslosen Ablauf der dritten Lesung ihren Ausdruck fand, hat einige politische Probleme noch nicht aus der Welt geschafft. Es ist ganz natürlich, daß in den bevorstehenden Plenarverhandlungen die einzelnen Gruppen zum Ausdruck bringen werden, welche Motive sie bei der ersten Zielsetzung bestimmt hatten, in welchen Punkten und warum dann eine Abweichung, ein Entgegenkommen, das gemeinsame Suchen nach neuen Formeln sich ihnen empfahl. Man wollte fertig werden, weil man fertig werden mußte. Die Gesamtlage forderte von doktrinärer Rechthaberei wie von gesinnungsmäßiger Gebundenheit dieses und jenes Opfer. Es wurde gebracht.

Aber nun ist der Prozeß noch nicht geklärt, wie das Opus, wenn es die Schlußentscheidung passiert hat, wenn es bei den Militärgouverneuren gelandet und vielleicht genehmigt sein wird, zur demokratischen Legitimierung kommen wird. Man erinnert sich, daß das Londoner Dokument es als gegeben betrachtet, daß eine Volksabstimmung zum Ja oder Nein führen wird. Aber als die Ministerpräsidenten der deutschen Länder in Koblenz zusammengekommen waren, widerrieten sie diesen Weg und schlugen vor, daß den Landtagen das Votum überlassen werde. Daß die Landtage als indirekte Wahlkörper für den Parlamentarischen Rat gewirkt hatten, konnte als im Sommer 1948 zeitbedingte Verlegenheitslösung genommen, hingenommen werden. Man wird sagen dürfen, dem Niveau des Parlamentarischen Rates ist das nicht schlecht bekommen. Denn eine knappe Improvisation der Volkswahlen hätte vermutlich eine für die Sonderaufgabe weniger glückliche Personenauswahl erbracht. Aber das Fehlen des unmittelbaren Volksauftrages hat unzweifelhaft dann doch, in der kritischen Beurteilung durch die marktgängige Besserwisserei, der Arbeit in Bonn das rechte moralische Gewicht entzogen. Wird es ihr nun nachträglich gegeben oder verweigert werden?

Die Militärgouverneure haben seinerzeit die Einwendungen der Ministerpräsidenten ad notam genommen und ihr eigenes Urteil in der Schwebe gelassen. Der Parlamentarische Rat seinerseits schrieb in seinem Entwurf, daß er der Volksbefragung übergeben werden solle, und die Dezemberkonferenz in Frankfurt brachte eine Bemerkung der Militärgouverneure, etwa in dem Sinn, daß man damit auf dem rechten Wege sei. Aber eine Klärung selbst steht noch aus. Denn die Ministerpräsidenten haben ihren Standpunkt nicht verlassen, und es haben sich aus den Parteien beachtliche Stimmen gemeldet, die sich ihm anschließen. Die Frage ist wichtig genug, in die öffentliche Diskussion gestellt zu werden.

Wir unsererseits haben uns für die Volksbefragung ausgesprochen in der Sorge, von den Feinden der Demokratie und fast noch mehr von denen, die sich als ihre Gralshüter betrachten, werde die Überantwortung der Entscheidung an die Landesparlamente als ein "Ausweichen", als "Mächlerei" ängstlicher Parteitaktiker beschrieben und bekämpft werden. Die plebiszitäre Beurteilung allein ist in der Lage, dem Werk ein festeres Fundament im Volksgefühl zu schaffen. Doch ist es notwendig, die Einwendungen zu hören und zu überprüfen. Der erste ist technischer Natur: wir haben nicht allzu viel Zeit zu verlieren, in den Landtagen geht das rascher, während für die Volksabstimmung gesetzgeberisch und organisatorisch umständliche Vorbereitung nötig ist. Ja, wenn in Bonn Kampfabstimmung mit knapper Mehrheit das wahrscheinliche [wären], dann müßte die politische Logik zum breiten Volksentscheid führen. Aber diese dramatische Situation scheint ja nicht gegeben. Also ... Und die weitere Argumentation: erst Volksabstimmung und vier, sechs Wochen später Wahl führt zu einer gewissen Überforderung des durchschnittlichen Wählers - er bleibt einmal weg, er bleibt zweimal weg. Wie wird es überhaupt gelingen, in den Wochen, da das Besatzungsstatut buchstabiert werden wird, in den Deutschen etwas wie innere Wärme für dies Grundgesetz zu erzeugen. Der sucht seine Artikel und findet sie nicht, jener die seinigen und findet sie nicht: das die Einzelinteressen überwölbende Gemeingefühl fehlt. Hier wieder ein Stück deutscher Geschichte zusammenzubinden, mit der aus Gleichgültigkeit, aus Verzweiflung, aus Propaganda lebenden Skepsis fertig zu werden, wird nicht ganz leicht sein.

Vor dieser Skepsis beugen sich manche kluge Männer statt sie tapfer anzugehen. Sie stehen in der Erinnerung, daß die Weimarer Republik in ihrer sachlichen und moralischen Funktionsfähigkeit gefährdet und gestört wurde, als die stille oder laute, die unbewußte oder bewußte Kooperation der Rechts- und Linksgruppen, der Hugenberg-Gruppe bei den Deutschnationalen, der Nationalsozialisten und der Kommunisten den Sinn der Demokratie mißbrauchte. Und so glauben sie jetzt wieder, das Malaiset der Enttäuschten, der von den "Befreiungsgesetzen" Verärgerten und Verstimmten sich mit der ewigen Romantik der "Unpartei" des deutschen Geistes und mit dem höchst unromantischen Stil der KPD-Taktik langsam vermählen. Zu diesem Start wollen sie die Demokratie nicht antreten lassen; denn sie fürchten, daß das Grundgesetz dann, noch bevor es in Kraft trat, zum Alarmzeichen zur Sammlung der antidemokratischen Kräfte gemacht werde. Die Sammlung ist dann ganz mühelos: man bleibt zu Hause.

Vielleicht ist es gut, von diesen Dingen jetzt schon zu reden, denn sie sind nicht bloß Fragen parteitaktischer Überlegungen, sondern rühren an das Elementare der Staatlichkeit.