"Lichtungen" von Iris Wolff

Stand: 21.02.2024, 12:00 Uhr

Iris Wolff erzählt von einem jungen Liebespaar auf einer Reise durch Westeuropa. Die Erinnerung aber führt zurück zu einem Leben im sozialistischen Rumänien und den Überforderungen der Umbruchszeit. Ein leiser, kluger Roman über Abschied und Ankommen. Eine Rezension von Heimann Holger.

Iris Wolff: Lichtungen
Klett-Cotta Verlag, 2024.
256 Seiten, 24 Euro.

"Lichtungen" von Iris Wolff Lesestoff – neue Bücher 21.02.2024 05:07 Min. Verfügbar bis 20.02.2025 WDR Online Von Heimann Holger

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Es ist ein gegensätzliches Liebespaar, das sich zu Beginn des Romans von Iris Wolff auf einer Fähre einem Hafen an der französischen Mittelmeerküste nähert. Seit sechs Wochen sind Lev und Kato miteinander unterwegs, nachdem sie sich zuvor fünf Jahre nicht gesehen haben. Nur Postkarten hatte Kato von unterwegs geschickt. Die mutigere und neugierigere von beiden war eines Tages mit dem Rad losgefahren und hatte Lev in der rumänischen Heimat zurückgelassen. Sie ist Künstlerin und Lebenskünstlerin, verdient ihr Geld mit Straßenbildern und verschiedenen Aushilfsjobs. Aus Zürich schrieb sie dann die Karte, die nichts anderes als eine Aufforderung an Lev war: „Wann kommst du?“. Und Lev war endlich aufgebrochen, um seine Kindheitsfreundin wiederzutreffen, um sich gemeinsam mit ihr auf den Weg weiter gen Westen zu machen.


Sie hatten sich treiben lassen, manchmal auch Tage getrennt voneinander verbracht, sie brauchten für ihre Launen und Einfälle nicht viele Worte. Dafür kannten sie sich zu gut, dafür waren sie zu lange getrennt gewesen.

 

Lev steht im Zentrum des Romans. Er ist – ganz anders als Kato – ein vorsichtiger Mensch. Kato will die Welt entdecken, sie hält es selten an einem Ort. Lev will festhalten und schützen, was er hat. Wie wird jemand zu dem, der er ist? Welche Erfahrungen prägen einen Menschen entscheidend? Dieser Frage geht Iris Wolff in ihrem feinsinnigen Roman nach. Mit jedem Kapitel führt sie weiter in die Vergangenheit, bis zu den Kindheitstagen von Lev. Sie erzählt dessen Geschichte also gewissermaßen rückwärts. Bis zu dem Unfall, der dazu führt, dass er aufgrund einer nervlich bedingten Lähmung seine Beine nicht mehr bewegen kann. Fortan verbringt er viel Zeit im Bett. Die Außenseiterin Kato wird von der Lehrerin dazu bestimmt, Lev mit dem Schulstoff zu versorgen. Es ist der Beginn ihrer Freundschaft.   

Kato kam mit Schulaufgaben, aber Lev lag teilnahmslos da, verstand nichts, sagte nichts. Kato ging und kam am nächsten Tag wieder. Ohne die Aufgaben durchzugehen, saß sie an seinem Bett, zeichnete oder las ihm etwas vor; und auch wenn er ihr kaum folgen konnte, wollte er nicht, dass sie aufhörte.

Wie diese Freundschaft, die so zögerlich beginnt, wächst, das wird in zurückhaltenden Szenen sichtbar. Wie nebenbei fließt dabei unaufdringlich und zurückgenommen Zeitgeschichte mit ein. Mentalitäten und Zeitkolorit werden kenntlich. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die im Rumänien Ceausescus erst verschwiegen und dann verharmlost wird. Die Bedrohung durch die Securitate, ein brutaler Sadismus an der Schule und in der Armee. Die politische Wende bringt eine lang herbeigesehnte Freiheit, zugleich ist sie aber auch Überforderung.


Sie hatten auf das Ende der Diktatur gewartet, dann warteten sie auf das Neue, ohne zu wissen, was es mit sich brachte. Nichts hatten sie sich sehnlicher gewünscht als die Öffnung der Grenzen, und als sie offen waren, wussten sie nicht, was mit dieser Offenheit zu tun war.

Lev stammt aus einer deutsch-rumänischen Familie. Die Frage, wo er eigentlich hingehört, treibt ihn um. Er ist ohne Vater aufgewachsen. Der Großvater Ferry, der für den Jungen zur zentralen Bezugsperson wurde, ist geflohen. Lev weiß, was Verluste bedeuten, er hat Angst vor ihnen. Aufzubrechen, das Leben, das er kennt, hinter sich zu lassen, ist für ihn schwieriger als für Kato. „Vom Fortgehen wusste er nichts, nur von Abwesenheiten“, heißt es an einer Stelle. Behutsam erzählt Iris Wolff von einem Reifeprozess. Sie entwirft dabei ein klug austariertes Beziehungsgeflecht. Lev, der lange nicht gehen kann, lernt nicht nur, seine Beine wieder zu bewegen, er lernt auch das Fortgehen.

Die Straßenmalerin Kato interessiert sich für den holländischen Maler Vermeer. „Wie schaffte er es, das Geschehen in Andeutungen lebendig werden lassen?“ – sinniert sie einmal. Es ist ein Satz, mit dem Iris Wolff gewissermaßen ihr Schreibprogramm umreißt. Mit feinen Strichen und gedeckten Farben malt sie eine Welt im Umbruch.