"Was von meinem Vater bleibt" von José Henrique Bortoluci

Stand: 23.07.2024, 07:00 Uhr

Wie erzählt man die Lebensgeschichte eines einfachen Mannes? Das hat sich der brasilianische Soziologe José Henrique Bortoluci gefragt. Und ein Buch über seinen Vater, der viele Jahrzehnte lang als Lkw-Fahrer gearbeitet hat, geschrieben. Eine Rezension von Victoria Eglau.

José Henrique Bortoluci: Was von meinem Vater bleibt
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Maria Hummitzsch.
Aufbau Verlag, 2024.
175 Seiten, 20 Euro.

"Was von meinem Vater bleibt" von José Henrique Bortoluci Lesestoff – neue Bücher 23.07.2024 05:37 Min. Verfügbar bis 23.07.2025 WDR Online Von Victoria Eglau

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"Vergessene Helden. Nach fünfzig Jahren im Lkw und auf der Straße weiß ich das ganz sicher: Lkw-Fahrer sind vergessene Helden."

… sagt Didi, der Vater des brasilianischen Soziologen José Henrique Bortoluci. In seinem Buch "Was von meinem Vater bleibt" gibt der Akademiker-Sohn dem Vater, einem jener vergessenen Helden der Fernstraßen, das Wort. Ein halbes Jahrhundert lang hat Didi Lebensmittel, Baumaterialien und Holz kreuz und quer durch das südamerikanische Riesenland Brasilien transportiert – über Autobahnen, Schotterstraßen und schlammige Wege. Viele Jahre hat er allein und ketterauchend in seinem Lastwagen verbracht: Tag und Nacht, fast immer von der Familie getrennt, stets unter dem Druck, die Ware schnell ans Ziel zu bringen und möglichst rasch eine neue Fracht zu ergattern.

"Wie erzählt man die Lebensgeschichte eines einfachen Mannes?"

… fragt sich José Henrique Bortoluci auf den ersten Seiten seines Buchs. Didi gehört zu den Millionen Brasilianern und Brasilianerinnen aus der Unterschicht, deren Biografie gewöhnlich niemand schreibt. Für Bortoluci ist der Vater zugleich vertraut und fremd. In seiner Kindheit war dieser meist abwesend, tauchte nur ab und zu auf und erzählte von seinen Abenteuern auf der Straße. In Bortolucis Erwachsenenleben trennt ihn vom Vater, der nur wenige Jahre die Schule besucht hat, eine tiefe Bildungskluft. Beide, der promovierte Soziologe und der Lkw-Fahrer, haben keine gemeinsame Sprache mehr. Und beide denken über ganz unterschiedliche Sachen nach.

"Eines Tages bat mich mein Vater, auszurechnen, wie oft man mit der Strecke, die er als Lkw-Fahrer in seinem Leben zurückgelegt hatte, die Welt umrunden könnte. 'Kommt man damit rauf bis zum Mond?', fragte er."

Die gefahrenen Kilometer sind es, die Didi immer noch stolz machen – jetzt, da er alt und schwach ist und gegen eine Krebserkrankung und viele andere Leiden ankämpft. José Henrique Bortoluci setzt das Puzzle des Lebens seines Vaters aus eigenen Erinnerungen und Beobachtungen zusammen, vor allem aber basiert sein Buch auf langen Interviews, die er mit Didi geführt hat. Darin geht es vor allem um dessen Erlebnisse auf den Fernstraßen, um die überlebenswichtige Kameradschaft mit anderen Lkw-Fahrern, aber auch um Alkohol, Drogen, ungesundes Essen und den frühen Tod vieler einstiger Kumpel. Die akribische und sensible Annäherung an die Lebensgeschichte des Vaters ist berührend, weil in ihr die Liebe zu spüren ist, die der Sohn – trotz der Entfremdung durch seinen sozialen Aufstieg – empfindet. Und es ist klar, dass diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruht. Aber das Buch gleitet nichts ins Kitschige ab und glorifiziert den Vater auch nicht.

Bortolucis Buch ist in Teilen ein Essay, in dem der Soziologe die Mega-Infrastrukturprojekte thematisiert, die von der brasilianischen Militärdiktatur ab Mitte der 1960er Jahre vorangetrieben wurden. Allen voran die Besiedlung Amazoniens und der Bau der mehr als 4.000 Kilometer langen Fernstraße "Transamazonica" durch die grüne Lunge hindurch – ein Vorhaben, das der Autor für "größenwahnsinnig" hält.

"Die Straßen waren die Vorhut dieses aggressiven Projekts, und mein Vater war einer von Tausenden Arbeitern, die an ihrem Bau beteiligt waren. Er transportierte Steine, Sand, Kies, Vorräte und Grundbedarf für die Bauarbeiter und das Militär, das die Arbeiten begleitete."

So wird die Auseinandersetzung mit der Vaterfigur nebenbei zu einer kritischen Abrechnung mit einem sogenannten Fortschrittsmodell, das zur Zerstörung großer Teile des Amazonas-Regenwalds und zur Auslöschung indigener Kulturen führte. Bortoluci wirft es seinem Vater nicht vor, dass dieser ein kleines Rädchen in der Maschinerie des – Zitat – "Trauermarsches des Fortschritts" gewesen ist. Aber er verschweigt es auch nicht. Die Kritik des Autors macht vor heutigen Politikern wie dem brasilianischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro nicht Halt, den er in der Kontinuität der rechten Militärdiktatur sieht.

"Was von meinem Vater bleibt" ist auch ein aufschlussreiches Buch über das Brasilien der vergangenen Jahrzehnte, zu dessen chronischen Problemen soziale Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und Gewalt gehören. Reizvoll ist der Kontrast zwischen Bortolucis schnörkelloser, analytischer Sprache und den im Wortlaut wiedergegebenen, durchaus auch unterhaltsamen Erinnerungen des Vaters.