"Knisternde Schädel" von Roger van de Velde

Stand: 01.03.2024, 12:00 Uhr

Fenster in den Wahnsinn: Roger van de Veldes grandiose Portraits der Insassen eines psychiatrischen Gefängnisses in Belgien. Große Literatur aus einer Welt, in der andere Regeln gelten. Eine Rezension von Uli Hufen.

Roger van de Velde: Knisternde Schädel
Aus dem Niederländischen und mit einem Nachwort von Anette Wunschel.
Suhrkamp Verlag, 2024.
130 Seiten, 20 Euro.

"Knisternde Schädel" von Roger van de Velde Lesestoff – neue Bücher 01.03.2024 05:27 Min. Verfügbar bis 01.03.2025 WDR Online Von Ulrich Hufen

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In dieser Welt gelten andere Regeln. Auch beim Schach. Als der dunkelhaarige junge Mann mit den hölzernen Bewegungen sich zum Ich-Erzähler Roger setzt, um eine Partie zu spielen, will er vorab wissen, ob Roger beabsichtigt, sizilianisch oder indisch zu eröffnen.

"'Für mich ist es wichtig, Ihre Eröffnung zu kennen', drängte er. 'Sie müssen nach den Regeln spielen.'"

Doch schnell ist klar: der junge Mann macht seine eigenen Regeln. Er nimmt Figuren, ohne sie geschlagen zu haben. Er bewegt mehrere Bauern gleichzeitig. Er ruft "Schach!", wann er will. Ein Spiel ist unmöglich, Roger reagiert entspannt:

"Ich legte demonstrativ meinen König und streckte ihm die Hand hin: 'Ich gebe mich geschlagen', sagte ich. 'Sie sind der bessere Spieler.' Darüber war er sichtlich beglückt, denn er wog meinen König wie eine kostbare Trophäe in der Hand."

Und dann passiert, was in "Knisternde Schädel" immer passiert. Jede der 20 kurzen Erzählungen spielt in einer fremden, seltsamen Welt, in der fremde, seltsame Regeln gelten. Aber wenn man sich als Leser gerade hineingefunden hat in die Logik dieser Welt, geschieht gegen alle Vernunft etwas noch viel Seltsameres. Oder wie Roger van de Velde sagt:

"Es war so seltsam, dass es mir den Atem verschlug, als würde ich Zeuge eines Wunders."

Das wäre ein gute Definition für den Zauber, der von großer Literatur ausgehen kann. Nur dass Roger van de Velde diese Wunder als Insasse des psychiatrischen Flügels eines belgischen Gefängnisses erlebte, bevor er sie aufschrieb. Über Jahre.

Van de Velde wurde 1925 geboren und begann kurz nach dem zweiten Weltkrieg eine erfolgreiche Karriere als Reporter. Doch schon bald plagten ihn schwere Magenerkrankungen. Van de Velde wurde mehrfach operiert, 1958 schließlich erhielt er zum ersten Mal ein Rezept für das gerade neu eingeführte Schmerzmittel Palfium.

Ein Opioid, dessen Einnahme, wie sich zeigte, sehr schnell in die Abhängigkeit führt. Was dann passierte, war barbarisch, aber damals offenbar normal: Van de Velde wurde mit gefälschten Rezepten erwischt, sein Anwalt plädierte auf Unzurechnungsfähigkeit, ein Gerichtspsychiater stellt innerhalb weniger Minuten eine "Geistesstörung" fest.

Die Folge: Roger van de Velde verbringt die Jahre bis zu seinem frühen Tod 1970 fast durchweg im Gefängnis und in geschlossenen Anstalten. Unter psychisch Kranken und Schwerverbrechern. Da ist der Schachspieler, der nach seinem "Sieg" plötzlich einen Preis verlangt.

"Sie haben verloren, also schulden Sie mir eine Schachtel Zigaretten."

Da ist Daniel, der sich auf Befehl von Prometheus extralange Zigaretten dreht. Da ist ein Marquis de la Motte, der Schuldverschreibungen über Millionen Franc ausstellt. Da ist Casimir, der eine Liste mit Philosophen führt, die er nach seiner Entlassung abmurksen will.

Und da ist natürlich der kühle, sachliche, jeder Sentimentalität abneigte Roger. Roger raucht, spielt Schach und liest Flaubert. Vor allem aber beobachtet er seine Leidensgenossen mit Empathie und mit einem übernatürlichen Sinn für die grandios verblüffenden, oft sehr lustigen Gesten, Sätze oder Handlungen, zu denen diese kranken Seelen fähig sind.

Ganz im Gegenteil zu den Ärzten und Pflegern, die ihren Schutzbefohlenen weder helfen können noch wollen, deren barbarische Methoden van de Velde aber nur ganz nebenbei und ohne Empörung beschreibt. Das Böse versteht sich von selbst, Anklagen wären sinnlos. Van de Velde geht es um anderes:

"Wenn es darauf ankommt, die Beweggründe der menschlichen Psyche auszuloten, traue ich Dichtern wesentlich mehr zu als Ärzten. Erstere kennen sich natürlich auch nicht in der Materie aus, aber wenigstens gelingt es ihnen hin und wieder, ihr blindes Tasten und Suchen nach dem Wesen der Dinge in eine klingende, bewegende Sprache zu übertragen."

Van de Velde meint nicht sich selbst. Aber was er sagt, trifft den Kern von "Knisternde Schädel". 54 Jahre nach Roger van de Veldes Tod liegen seine fabelhaften Erzählungen jetzt erstmals auf Deutsch vor. Eine Entdeckung ist das und weit mehr als ein Zeitdokument: Große Literatur.