Mircea Cărtărescu: Theodoros
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
Zsolnay, 672 Seiten, 38 Euro.
Es ist, wenn man mit diesem Roman an den Schluss kommt, als hätte man sich überfressen: Noch eine Geschichte, noch eine historische Anekdote, noch ein mythisches Aperçu, noch ein fantastisches Märchen stopft man in sich hinein – und am Ende droht man fast zu platzen und weiß gar nicht recht, was man da gerade verschlungen hat. Es ist eine maßlos sich darbietende Erzählwelt, die kaum noch zu fassen ist. "Theodoros", so heißt das Ungetüm. Sein Autor ist der genialische Rumäne Mircea Cărtărescu.
In "Theodoros" gibt es allerdings keinen einzelnen Erzähler, sondern gleich sieben – die Erzengel schreiben das komplette Lebensbuch ihres Helden in der ungewöhnlichen "Du"-Form, greifen vor und blenden zurück, lassen verehrungswürdige Jungfrauen, Piraten, falsche Könige und Kaiserin Viktoria auftreten, scheinen in ihrem Tun Jorge Luis Borges ebenso im Sinn zu haben wie Michail Bulgakow, blättern in der Bibel und der Odyssee, haben zwischen Walachei und Nordafrika jeden Grashalm im Blick und dabei noch das britische Empire und die Neue Welt. Sie erweisen sich als Propheten und geostrategische Weltendeuter, berichten von vergangenen Tyrannen und malen dabei schon die Teufel unserer Gegenwart an die Wand. Ja, sie sind so all- und sprachmächtig, dass ihnen erzählend glaubhaft selbst Unglaubliches gelingt: Auf einer abgeschossenen Musketenkugel siedelt sich dank eines vitalen Hauchs eine Art Bakterium an, das in Millisekundenschnelle zu einer intelligenten Spezies heranreift und eine hochkomplexe Aufgabe hat – den Lauf des Geschosses und des Schicksals in eine andere Richtung zu lenken, auf dass der titelgebende Held noch einmal verschont werde und seiner frühen Berufung gemäß zum Kaiser von Äthiopien aufsteigen kann.
"Hast auch allen Grund, uns dankbar zu sein, Theodoros. Denn du befindest dich in der Mitte dieser Geschichte, und konntest jetzt nicht sterben, wiewohl du’s verdient hättest, niemals geboren worden zu sein, Mann aller nichtsnutzigen Siege, die dich zu den unverlöschlichen Flammen des Höllengrunds leiten! Wir haben gesehen, dass die Angst wie ein Iltis in deiner Seele stank, und haben unsere weißen Hände mit den Fingernägeln aus Licht zu dem Geschehen da unten auf der großen, von Wassern funkelnden Sphäre hingestreckt."
Wir bräuchten die Gabe Cărtărescus, um ebenso in Sekundenschnelle dieses monumentale Buch nachzuzeichnen, ihm gar gerecht zu werden. Um nur das wenigste zu sagen: Der historisch verbürgte Theodoros II., Kaiser Äthiopiens, mit eigentlichem Namen Kassa Hailu, geboren 1818 und durch Selbsttötung 1868 in die ewigen Geschichtsbücher gelangt, wird von Mircea Cărtărescu mit einem gewissen Tudor gekreuzt: Der ist der Sohn eines Dienstboten und einer Griechin und wächst auf in einem ganz anderen Weltteil, eher einer Gegend…
"…der Märchen und des Traums als eine der Geographie: die neblige, verschneite, wilde und unvergleichliche Walachei, blühendes Vaterland mit dem Duft nach Aprikosen und Quitten, mit singenden Hähnen, die mit ihren Trompetentönen immer noch deine verlorene Seele erreichten…"
Die Mutter infiziert ihn mit ihren griechischen Heldensagen. Alexander der Große wird zu Tudors Leitstern. So wächst er heran, größenwahnsinnig und fantasiebegabt, zieht durch die Welt, verbrennt vor Sehnsucht nach einer unerreichbaren Schönheit, wird zum gefürchteten Seeräuber zwischen den griechischen Inseln, wechselt mit dem vorbestimmten Kaiser von Äthiopien die Identität, wird zunächst von den Briten im Kampf gegen gemeinsame Feinde großzügig ausgestattet, um dann aber vom Imperium in die Schranken gewiesen zu werden; er reiht sich ein in eine Herrscherlinie, die bei Salomon ihren Ursprung hat. Und er sucht vor allem, weil er Erfüllung nicht findet, nach absoluter Macht. Dabei agiert Theodoros wenig zimperlich, und Cărtărescu enthält uns keine Grausamkeit vor, die von Menschen begangen werden kann – und weil der Autor auch in dieser Hinsicht ein Meister ist, reichen seine Beschreibungen oft an den Rand des Zumutbaren.
All das gehört – ebenso wie Theodoros' das eigene Leben beschönigenden und fantasieseligen Briefe an die Mutter – zum Kern dieses Buches: Wie lassen sich aus Sprache neue Welten formen; wie machtvoll ist das Erzählen, und was ist schon die Wirklichkeit angesichts eines die Vorstellungskraft sprengenden Möglichkeitssinns? "Theodoros" ist ein mythischer und ganz gegenwärtiger Historienroman, zudem ein barock überschäumendes, sprachliches Glanzstück – dem Übersetzer Ernest Wichner sollte man dafür alle Übersetzerpreise zuerkennen, die sich finden lassen. "Theodoros" ist ein Text aus Texten, ein Palimpsest, eine Überschreibung von Geschriebenem, eine Übermalung der Welt, um deren Funktionieren nur umso kenntlicher zu machen.