"Weiter nach Osten" von Maylis de Kerangal

Stand: 08.11.2024, 10:28 Uhr

Ein junger russischer Rekrut, eine französische Frau und die hypnotische Schönheit der Transsibirischen Eisenbahn: In "Weiter nach Osten" erzählt Maylis de Kerangal von einer Reise ins Ungewisse. Eine Rezension von Uli Hufen.

Maylis de Kerangal: Weiter nach Osten
Übersetzt aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp, 90 Seiten, 20 Euro.

Die russische Literatur ist ohne die Eisenbahn nicht vorstellbar. Tolstois Anna Karenina stirbt unter einem Zug. Dostojewskijs "Idiot" kehrt mit der Eisenbahn heim aus dem Exil, Wenitschka Jerofejew trinkt sich in einer Moskauer Vorortbahn ins herrlichste Delirium der Weltliteratur und bei Wsewolod Petrow ist ein Lazarettzug im Zweiten Weltkrieg Schauplatz einer der ganz großen Liebesgeschichten. Die Liste ließe sich leicht verlängern.

Natürlich, auch anderswo haben Schriftsteller bemerkt, dass eine Fahrt mit der Eisenbahn ein kluges Sinnbild ist für das Leben an sich. Aber: die Weite Russlands ermöglicht Bahnreisen ganz anderer Dauer und Intensität. Allen voran die Transsibirische Eisenbahn, die zwischen Moskau und Wladiwostok verkehrt. Ihrem Zauber verdanken wir jetzt Maylis de Kerangals Kurzroman "Weiter nach Osten", den man besser eine Novelle nennen müsste. Denn worum es hier geht, das ist eine unerhörte Novellen-Begebenheit, wie sie unerhörter nicht sein könnte. Unter den Passagieren, die den Zug am Jaroslawer Bahnhof in Moskau besteigen, ist eine Kompanie Rekruten. Sie wissen nicht, wohin die Reise geht, nur eins ist klar: Sibirien, für zwei Jahre.

"Die geschorenen Schädel bleich, die Schläfen schweißnass, unter ihnen Aljoscha, zwanzig Jahre alt, kräftig gebaut, doch der Körper von gegensätzlichen Impulsen gesteuert, der Rumpf vorgebeugt, während die Schultern, cholerisch, nach hinten gezogen sind, ein Teint wie Zement, die Augen schwarz."

Aljoscha sieht aus wie die andern, aber er ist nicht wie sie. Tief in ihm schlummert eine andere Lust zu leben, ein rebellischer Impuls.

"Fliehen. Der Gedanke durchzuckt den Jungen plötzlich, eine blitzartige Gewissheit, so greifbar wie ein Stein, und genau in diesem Augenblick taucht die transsibirische in einen Tunnel ein, fliehen, so schnell wie möglich abhauen, verschwinden, unterwegs abspringen."

Ein erster Fluchtversuch scheitert in Krasnojarsk, Aljoscha verläuft sich, hat Glück, dass niemand etwas bemerkt. Wenig später steht er ganz am Ende des fahrenden Zuges, presst die Stirn gegen die dreckige Glasscheibe, beobachtet, wie die Schienen im Dunkel verschwinden. Und dann taucht sie auf. Hélène, Französin, Mitte 30, Jeans, Lederstiefel, ein violetter Schal. Hélène spricht kaum Russisch, Aljoscha nichts anderes, die beiden trinken zusammen und sie rauchen und sie blicken hinaus in die kosmische sibirische Nacht. Dann wird es hell und Aljoscha greift hart nach Hélènes Handgelenk:

"und jetzt redet er, ein Wahnsinnserguss, zitternde Lippen, aneinanderstoßende Wörter, und diese Sprache, die rollt, rollt, hastig pulsiert, Dialekt oder Slang, sie weiß es nicht, kann kein Wort verstehen, aber den Sinn schon - das Gesicht des Jungen ist so lebhaft, so ausdrucksvoll, die Augen bis an die Schläfen aufgerissen, graue Schatten darunter: er will mit ihr kommen, in ihr Abteil."

Warum Hélène ja sagt zu diesem verwegenen Plan? Es ist eine Impulshandlung, genau wie Aljoschas Entschluss zu fliehen. Hélène weiß, was das bedeutet, sie hat selbst gerade Hals über Kopf ihren russischen Liebhaber Anton verlassen. Ein Leben in Sibirien kommt für sie nicht in Frage. Selbst mit Anton nicht, der ein überaus charmanter und schöner Mann ist, in Frankreich aufgewachsen, aber in Russland zu Hause. Unverkennbar.

Und so entwickelt sich zwischen Krasnojarsk und Wladiwostok ein Katz- und Mausspiel. Aljoscha muss versteckt werden, Soldaten durchkämmen die Waggons, zwei grundverschiedene Schaffnerinnen treten auf den Plan, die Ehrfurcht vor einem frisch gewienerten Boden spielt eine Schlüsselrolle. Atemlos spannend ist das, auch weil der Blick immer wieder von Aljoscha und Hélène und den Häschern weg schwenkt hinaus auf die Landschaft. Endlose Wälder ziehen vorbei, irgendwann auch der Baikalsee, der Jennisej, der Amur, der Pazifik. Aber das eigentliche Ereignis in diesem Roman ist die Sprache. Unaufhörlich rollen die Sätze voran und dabei entsteht ein unwiderstehlicher hypnotischer Sog. Ein Sog, der jenen Sog spiegelt, den eine Reise mit der Transsib erzeugt. Maylis de Kerangar hat es erlebt, man spürt es auf jeder Seite. Ein magisches Lesevergnügen!