Wang Xiaobo: Das Goldene Zeitalter
Aus dem Chinesischen übersetzt und mit einem Nachwort von Karin Betz.
Matthes & Seitz, 2024.
287 Seiten, 23 Euro.
Die Hauptfigur Wang Er ist dicht an die Biographie des Schriftstellers angesiedelt, daher dieses Wang Er, was etwa mit Wang, der Zweite, übersetzt werden könnte. Das Alter Ego des Autors also, auch wenn dies kein autobiographischer Roman ist.
"Ich war einundzwanzig. Das Goldene Zeitalter meines Lebens. Ich hatte eine Menge extravaganter Träume, ich wollte lieben, ich wollte essen und mich mit einem Wimpernschlag in eine halb im Licht, halb im Dunkeln driftende Wolke verwandeln."
Wang Er ist schon auffällig in der Schule, hoch aufgeschossen ist er, ein Meter neunzig groß, "ich kam ständig zu spät", heißt es. Zudem ist er rauflustig, mit einem Ziegelstein in der Schulmappe bewehrt, und "auf der Tadelseite immer prominent vertreten", wie es heißt. Der Titel des Romans ist ironisch gemeint, auch provokativ und zugleich durchaus passend zum Leben der Hauptfigur. Denn Wang Er wird schließlich noch das Beste aus dem Dilemma seiner Zeit machen.
"Erst später wurde mir klar: Leben heißt, dass man in einem langen, qualvollen Prozess die Eier mit dem Hammer zertrümmert kriegt."
"Meine ureigene Natur war die eines nutzlosen Banditen", verrät Wang Er. Sein Vater und später die Lehrer betrachten ihn "als unverbesserlichen Nichtsnutz". Von früh an ist er frech, aufsässig, rebellisch, gaukelt allen etwas vor. "Der Bengel ist wie ein böser Erdgeist!", poltert der rabiate Vater.
"Meiner Meinung nach lag es in der menschlichen Natur, faul, lüstern und gierig zu sein. Wer vorgab, hart zu arbeiten und ein redliches Leben zu führen, machte sich der Heuchelei schuldig und das war schlimmer als alle Gier, Lust und Faulheit."
In einer Welt voller Lügen und Doppelmoral karikiert der Schriftsteller das Hin und Her in den politischen Kampagnen seines Landes zwischen 1958 und 1978. In den Augen der Funktionäre ist die Hauptfigur ein "Unruhestifter", der sich selbst als Scherzkeks und Anarchist betrachtet, ein Rebell und Märtyrer, der die rigiden Vorgaben unterläuft und davon träumt, den Heldentod zu sterben. Obwohl kein Parteimitglied und auch ohne Doktortitel, bringt er es doch zum Dozenten an einer landwirtschaftlichen Fachhochschule.
"Es sah so aus, als ob eine Menge Leute nichts von der Existenz eines Wang Er wussten. Das schien bedenklich. Wenn jedermann behauptete, dass Menschen und Dinge, von deren Existenz man eben noch überzeugt war, gar nicht existierten, dann war die Realität möglicherweise reine Illusion."
"Das Goldene Zeitalter" ist in China bis heute ein Kultbuch, womöglich auch wegen vieler erotischer Szenen. Häufig dreht es sich um "meinen kleinen Mönch", wie es heißt, "der steif und stramm in die Luft ragte (…), fußlang und rotglänzend wie ein frisch gehäutetes Kaninchen". Dass lustvoller, vergnüglicher Sex das Interesse verknöcherter Funktionäre weckt, verwundert nicht. Und so zwingen sie Unbotmäßige wie Wang Er und seine verschiedenen Geliebten dazu, von ihren Ausflügen in die private Freiheit in aller Ausführlichkeit zu beichten.
"Am Ende sperrten sie uns ein und ließen uns viel Zeit, um ausführliche Selbstkritiken zu verfassen. Zuerst schrieb ich nur einen Satz: Chen Qingyang und ich haben eine illegitime Beziehung. Sonst nichts. Aber von oben hieß es, das sei zu wenig und ich solle noch einmal von vorn anfangen. Also schrieb ich: Ich habe eine illegitime Beziehung mit Chen Qingyang und habe sie ziemlich oft gevögelt, was ihr gut gefallen hat. Diesmal hieß es von oben, meiner Selbstkritik mangele es an Details. Also ging ich ins Detail: Unser vierzigster illegitimer Sex fand in einer Strohhütte statt, die ich heimlich in den Bergen errichtet hatte."
Auch wenn sich der Witz und der Schwung im Laufe der Lektüre etwas verlieren und ein westlicher Leser ohnehin die einzigartige Wirkung eines solchen Buches in China nur in Ansätzen erfassen kann: Es bleiben vergnügliche und anarchische Momente im Gedächtnis und Karin Betz hat das Ganze munter und unterhaltsam und flott ins Deutsche übertragen. Wir lernen einen chinesischen Schwejk kennen, einen Don Quijote, einen Anarchisten, der die rigiden Verhältnisse zum Tanzen bringt. Gewalt und Willkür werden einfach verlacht. Ein Roman zum Schmunzeln.