"Silence" von Albrecht Selge

Stand: 16.02.2024, 12:00 Uhr

Albrecht Selge macht sich in seinem neuen Roman auf die Suche nach Stille und Ruhe in einer lauten Welt. Eine Rezension von Andreas Wirthensohn.

Albrecht Selge: Silence
Rowohlt Berlin, 2024.
173 Seiten, 23 Euro.

Das legendäre Platten-Label ECM, seit Jahrzehnten berühmt für seine Jazz- und Klassikproduktionen von Keith Jarrett bis Arvo Pärt, wirbt gerne mit einem bemerkenswerten Satz: Auf den Alben der Münchner Firma höre man "the most beautiful sound next to silence". Oder anders formuliert: Nur Stille klingt schöner als diese Musik.

Zum Beweis beginnt jede ECM-Platte mit fünf Sekunden Stille. Erst dann hat die Musik das Wort. Auch der Ich-Erzähler in Albrecht Selges Roman, den man getrost mit der Person des Autors gleichsetzen darf, ist ein großer Freund und Kenner der Musik. Und auch bei ihm sind der Klang der Töne und die Stille keine Gegensätze, sondern sozusagen die zwei Seiten einer Medaille, die einander bedingen:

"Schon seit einigen Jahren hörte ich, manchmal wie in einer Sucht, gern Musik, die der Stille nahezukommen sucht. Salvatore Sciarrino zum Beispiel, eine Zeitlang hörte ich ständig Sciarrino. Oder, manchmal an der Grenze zur Klangschalenwellness und dennoch o wie schön, Konstantia Gourzi. Aber auch jene Stille gehört dazu, die sich schlagartig bei Bruckner ereignen kann. Und Schubert sowieso."

Der musikalische Extremfall ist natürlich das gern zitierte Stück "4‘33" von John Cage, in dem vier Minuten und 33 Sekunden lang kein einziger Ton gespielt wird. Stille als Musik sozusagen.

Das ist als Kunstwerk allerdings nur ein einziges Mal wirklich originell, und auch deshalb steht Selge der Sinn weniger danach sondern vielmehr nach dem anderen Extrem: Opus 131, einem der letzten Streichquartette Ludwig van Beethovens, das dieser wenige Jahre vor seinem Tod schon in völliger Taubheit komponierte.

"Und das ist ja keine Stille, sondern kommt aus der Stille und ist letztlich gegendie Stille. Denn die wirkliche Stille, die vollkommene Stille gibt es erst im Tod. Und dann hört sie ja niemand mehr, die Stille. Ist dann überhaupt Stille, wenn kein Lebewesen sie hört? Im Grunde, dachte ich, gibt es also überhaupt keine Stille. Außer in unserer Vorstellung."

Der Erzähler ist Ende vierzig, verheiratet, Vater von drei Kindern, er schreibt, liest viel, besucht Konzerte und Ausstellungen – und leidet am Lärm der Welt. Laubbläser, der Autoverkehr, die Handtrockner auf öffentlichen Toiletten, der Lärm der eigenen Gedanken – dagegen hilft nur eine Art Survival-Package für empfindsame Seelen, das er denn auch ständig dabei hat: ein Buch, ein Wasserfläschchen, Noise-Cancelling-Kopfhörer und natürlich Ohropax.

Das Leben ist für ihn ein ständiges Davonlaufen vor dem Krach der Großstadt, eine Sehnsucht nach "silence" [engl.] oder "silence" [franz.], also nach dem, wofür es im Deutschen zwei verschiedene Wörter gibt: Stille und Schweigen.

Wir begleiten den Erzähler auf Reisen und durch den Familienalltag, in Kunstmuseen und Opernhäuser, ins Pflegeheim, wo sein Vater im Sterben liegt, und zu einer Domina, die er zwecks Lustgewinn regelmäßig aufsucht, während seine Frau bei ihrem Liebhaber ist.

Eine wirkliche Handlung hat dieser Roman nicht, und im Grunde ist das Buch auch gar kein Roman, sondern eine lange Meditation über das Leben und das Sterben, über Angst und Verlorenheit – und eben über das nicht ganz einfache Dasein als "Geräuschleider", wie Franz Kafka laut eigener Aussage einer war.

Selge selbst nennt das, was er hier reichlich assoziativ präsentiert, eine "konfuse Vision", ein "loses Sinnieren" oder auch "unsystematisch streunende Gedanken". Meist gerät ihm das durchaus klug, wahrnehmungsscharf und witzig, nur manchmal rutscht er aus und landet für Momente im Kalauer oder in billiger Polemik, etwa über das Gehuste in Konzerten.

Und ähnlich wie Musik und Stille bei Selge keinen Gegensatz bilden, schließen auch das literarische Sprechen und das Schweigen einander nicht aus. Das wortreiche Reden über die Stille wird zur Selbstvergewisserung, indem es Momente des "Mit-mir-selbst-Seins" heraufbeschwört – Momente des Glücks oder "unsagbares Weltempfinden", wie er das mit einem Ausdruck von Robert Walser nennt. Und so endet dieses eigensinnige, ganz und gar unkonventionelle Buch mit einem wunderbaren Paradoxon:

"Ich lege mich zu ihr. Es ist ganz still hier drin, mir ist nicht klar, ob diese Stille nun die Summe aller Töne ist oder ob alles nichts ist. Alles ist hier voll von unserem Schweigen."