"Unsere Geschichte" von Pingru Rao

Stand: 06.12.2023, 12:00 Uhr

Die Erinnerungen von Rao Pingru sind intimer Bericht und Geschichtsbuch zugleich. Sie erzählen in einfachen Worten und Bildern die Liebesgeschichte eines Paares und lassen das chinesische 20. Jahrhundert mit all seinen Härten und Verwerfungen lebendig werden. Eine Rezension von Holger Heimann.

Rao Pingru: Unsere Geschichte
Aus dem Chinesischen von Eva Schestag.
Matthes & Seitz Berlin, 2023.
442 Seiten, 38 Euro.

"Unsere Geschichte" von Pingru Rao Lesestoff – neue Bücher 06.12.2023 05:08 Min. Verfügbar bis 05.12.2024 WDR Online Von Holger Heimann

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Der Krieg ist zum Alltag geworden. Wieder versuchen chinesische Truppen eine Stellung der japanischen Invasionsarmee einzunehmen, wieder schlagen feindliche Geschosse ein, wieder werden Soldaten getroffen. In einem solchen Augenblick höchster Gefahr hält Rao Pingru, der in der chinesischen Armee dient, kurz inne.

"Ich blickte zum Himmel, es war ein sonniger Tag, flüchtige Wolkenschatten und ringsum nichts als grüne Berge. Auf einmal, im Lärm des Geschützfeuers, fasste ich ganz ruhig den Gedanken: Ob hier womöglich meine Grabstätte ist? Unter dem blauen Himmel mit den weißen Wolken, umgeben von grünen Bergen, ließe es sich gut sterben."

Angst scheint dem jungen Soldaten fremd zu sein, jedenfalls erzählt Rao Pingru im Rückblick auf sein Leben nichts davon. Er erfüllt seine Pflicht, verteidigt seine Heimat, und er ist bereit zu sterben. Aber das ändert sich, als er die Frau trifft, die ihn anders auf sein Leben blicken lässt.

"Ehe ich Meitang kennenlernte, hatte ich keine Angst vor dem Tod, vor keiner noch so weiten Reise. Es kümmerte mich nicht, ob die Zeit lang war oder kurz. Doch jetzt bedachte ich die Zukunft bewusster als je zuvor."

60 Jahre sind Rao Pingru und Meitang verheiratet. Als sie 2008 stirbt, entschließt er sich, seine Erinnerungen aufzuschreiben und mit Zeichnungen zu versehen. "Unsere Geschichte" erzählt in einfachen Worten, ohne jedes Pathos vom fürsorglichen Miteinander eines Paares und von ungeheuren Entbehrungen in schwierigen Zeiten.

Wie nebenbei wird dabei das chinesische 20. Jahrhundert mit seinen großen Verwerfungen lebendig. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kämpft Rao Pingru im chinesischen Bürgerkrieg auf der Seite Chiang Kai-Sheks. Die siegreichen Kommunisten stecken ihn deshalb später über 20 Jahre in ein Arbeitslager. Meitang muss sich und die fünf Kinder alleine durchbringen.

"Um das Haushaltseinkommen aufzubessern, nahm Meitang alle möglichen Aushilfsarbeiten an. Sie schleppte sogar Zementsäcke auf der Baustelle des nahegelegenen Naturkundemuseums. Ein Sack Zement war mindestens fünfzig Pfund schwer, und sie trug einen bleibenden Rückenschaden davon."

Der Stil des Buches ist nüchtern, zurückgenommen, sachlich. Ausgeschmückt wird nichts, sieht man von den Bildern ab, mit denen Rao Pingru seine Erzählung illustriert. Dabei passt der Stil der Zeichnungen zu dem des Textes.

"Selten gibt der Autor den dargestellten Figuren einen besonderen Gesichtsausdruck oder irgendeine Form von Dynamik oder Gefühl", notiert der Schriftsteller Kristof Magnusson treffend in seinem lesenswerten Vorwort.

Trotzdem entfalten auch die Bilder eine starke Wirkung. Die Zumutungen einer harschen Wirklichkeit lässt gerade der lapidare Berichtston der Erinnerungen klar hervortreten.

"Die Arbeit war einfach und primitiv, den Kopf brauchte man dazu nicht" – mit diesem einen Satz fasst Rao Pingru seine ersten zehn Jahre im Arbeitslager zusammen. Er braucht den Kopf, um die Umerziehung durch Arbeit zu überstehen. Und er trainiert ihn. In den wenigen Pausen lernt er Englisch und spielt Geige.

"Doch wenn ich in der Baracke übte, störte das die Ruhe der anderen Arbeiter. Da dachte ich mir etwas aus: Ich malte die Saiten und Griffe der Geige auf ein Brett und übte nachts unter meinem Moskitonetz die Griffe auf diesem imaginären Instrument. Sonntags war frei, und ich verließ die Baustelle, um auf der echten Fidel zu üben."

Der Kontakt zu Meitang reißt nie ab. In ihren Briefen, die dem Buch beigefügt sind, erkundigt sie sich immer wieder nach dem Wohlergehen des Abwesenden und erzählt vom schwierigen Alltag mit den Kindern. Die Aufforderung der Regierung, sich von ihrem Mann loszusagen, ignoriert sie.

Ihre Briefe sind – wie die Erinnerungen – sachliche, am Alltag orientierte Mitteilungen, Liebesschwüre finden sich nicht darin. "Unsere Geschichte" ist trotzdem ein Liebesbuch. Die illustrierte Erzählung, die ursprünglich keineswegs zur Publikation bestimmt war, ist nicht auf Effekte hin geschrieben, sie berührt gerade durch ihre Einfachheit.