"Chor der Erinnyen" von Marion Poschmann

Stand: 13.09.2023, 07:00 Uhr

Ein wohlgeordnetes Leben gerät aus den Fugen. In ihrem neuen Roman erzählt Marion Poschmann auf frische Art vom Einbruch Unkontrollierbaren in den Alltag. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Marion Poschmann: Chor der Erinnyen
Suhrkamp, 2023.
189 Seiten, 23 Euro.

"Chor der Erinnyen" von Marion Poschmann Lesestoff – neue Bücher 13.09.2023 05:20 Min. Verfügbar bis 12.09.2024 WDR Online Von Dirk Hohnsträter

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Ein geordnetes Leben

Alles ist gut, sollte man meinen, im Leben von Mathilda, einer Gymnasiallehrerin für Mathematik und Musik. Sie hat ihr Leben grundsolide eingerichtet; Zahlen und Fakten geben ihr Halt. So jedenfalls erscheint es von außen, zum Beispiel nach Ansicht ihrer alten Freundin Birte:

"Birte deutete an, dass ihr Mathildas Lebenswandel zu angepasst erschien, ohne Risiko, ohne existentiellen Ernst. Ein netter Ehemann, ein fast abbezahltes Haus, ein interessanter Beruf, ein Auto, das sie sich teilten, weil sie beide ihren Arbeitsplatz zu Fuß erreichen konnten, außerdem Kinder zuhauf in der Schule – sie hatte all das, was landläufig als Erfüllung galt, ohne besondere Mühe erreicht."

Der Halt entgleitet

Nach jahrelanger Abwesenheit taucht Birte wieder auf, zunächst als eine Erscheinung, die sich sogleich wieder verflüchtigt, dann tatsächlich. Zudem verlässt ihr Mann sie von einem Tag auf den anderen. Mit jedem neuen der 13 Kapitel entgleitet Mathilda ihr braves Leben ein wenig mehr. Sie wird heimgesucht von ihrer Kindheit, ihrer Verspanntheit, den sorgsam abgewehrten Seiten ihres Selbst.

"Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, lange Haare, feucht, die kalt auf der Haut klebten, die sich um ihren Hals legten, das Kinn einschnürten, Haare, die sie dichter und dichter einspannen wie in einen Kokon, dunkle Strähnen, verknotete zähe Fäden, Fell- und Federreste, Flusen, Staub, Erinnerungen an alles, was sie in sich hineingefressen und nie wieder ausgespien hatte, auf einmal schwebte das im Raum wie ein unmäßiges Fangnetz, sie mittendrin, ein umwickeltes, gebanntes Objekt."

Ein Seismograph der Verwandlung

So simpel und bekannt das dem Roman zugrundeliegende Schema vom Einbruch des Unkontrollierbaren ins wohlgeordnete Leben ist, so frisch ist die Sprache, in der Marion Poschmann es entfaltet. Sie beobachtet genau und schreibt mit einem untrüglichen Sinn für den Rhythmus der Sätze. Besonders gelungen ist der poetische Kunstgriff, das Tagebuchgekritzel der Protagonistin zum Seismographen ihrer Verwandlung zu machen:

"Sie kritzelte mechanisch weiter, sie kritzelte das Blatt voll und versuchte akribisch, jedes weiße Fleckchen zu übermalen. Seltsamerweise vermehrten sich die weißen Stellen, je genauer sie sie überschrieb. Für eine Lücke, die sie ausfüllte, entstanden drei neue Fitzelchen, ein uferloses Unterfangen. Trotzdem wurde die Seite lebendig, sie begann zu atmen und wölbte sich ihr entgegen."

Einfühlsame und humorvoll

Poschmann porträtiert ihre Figuren auf ebenso einfühlsame wie subtil-humorvolle Art. Nie zeichnet sie ein Zerrbild der als kleinbürgerliches Kind zur Korrektheit erzogenen Hauptfigur, die sich ständig zusammenreißt und dabei doch immer dünnhäutiger und reizbarer wird:

"Seine Rede hatte verworren geklungen, und sie wollte sich ihrerseits nicht zur Kontrollinstanz aufschwingen. Ohnehin warf er ihr in letzter Zeit dominantes Verhalten vor, sie hatte sich vorgenommen, sich in seine Angelegenheiten nicht mehr einzumischen und ihm alle Freiheiten zu lassen, natürlich in sinnvollen Grenzen. Er würde seine Gründe haben. Er musste Gründe haben, auch wenn sie nicht dahinterkam. Allerdings fand sie, dass er überzog."

Der Zerfall der Form

So vage die örtlichen und zeitlichen Bezüge in Marion Poschmanns neuem Roman auch ausfallen, als so aktuell erweist er sich bei genauem Hinlesen. Denn Poschmann erzählt von einer Zeit, der das stützende Geländer eingeübter Verbindlichkeiten abhandenkommt. Es ist ein Buch des Entgleitens, das den Zerfall der Form auch literarisch einzuholen vermag:

"Sie drückte den Stift hart auf und glitt im Bogen über das Papier, ein Notenschlüssel, der sich verselbständigte und immer weitere Kreise zog, ein Schlüssel, dem die Schleifen und Schlaufen zu grotesken Auswüchsen wurden, eine monströse Verzierung, ohne dass ein zu verzierender Gegenstand vorhanden war, ein leeres Versprechen, ein Wortbruch, ein Verbrechen an der Bedeutung."