"Doktor Schiwago" von Boris Pasternak

Stand: 17.10.2024, 07:00 Uhr

Mehrfache Verfilmungen, Hörspiel-Adaptionen, sogar eine Oper gibt es nach der Romanvorlage von Boris Pasternaks "Doktor Schiwago". Mit Jürgen Hentsch ist jetzt erstmals eine Hörbuch-Version in den Handel gekommen. Eine Rezension von Christoph Vratz.

Boris Pasternak: Doktor Schiwago (Hörbuch)
Gelesen von Jürgen Hentsch.
Der Audio Verlag, 2024.
2 CDs (Laufzeit: 20 Stunden und 12 Minuten), 30 Euro.

"Doktor Shiwago" von Boris Paternak Lesestoff – neue Bücher 17.10.2024 05:23 Min. Verfügbar bis 17.10.2025 WDR Online Von Christoph Vratz

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Moskau, zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Mutter des zehnjährigen Juri Shiwago wird zu Grabe getragen.

Die Passanten ließen den Trauerzug vorüber, zählten die Kränze, bekreuzigten sich. Neugierige folgten der Prozession, fragten: »Wer wird beerdigt?« Sie bekamen zur Antwort: »Schiwago.« Aha. Verstehe. »Doch nicht er. Seine Frau.« Dennoch. Gott schenke ihr das Himmelreich.

Der Junge Juri ist nun Halbwaise. Doch er steht allein, denn sein Vater hat das Vermögen durchgebracht und die Familie sitzenlassen.

Er hob den Kopf und ließ von seinem erhöhten Standpunkt aus abwesend den Blick über die herbstlichen Weiten und die Kuppeln des Klosters gleiten. Sein stupsnasiges Gesicht verzerrte sich. Sein Hals reckte sich hoch. […] Der Junge hielt die Hände vors Gesicht und schluchzte.

 

Später wird dieser Junge Arzt, zunächst im Krankenhaus, dann beim Militär. Außerdem schreibt er Gedichte.

Er schreibt mit Leidenschaft, und es gelingt ihm gut, was er schon immer schreiben wollte und musste, jedoch nie vermochte, doch jetzt klappt es […] Sein Poem handelt nicht von Auferstehung und nicht von Grablegung, sondern von den Tagen, die dazwischen liegen. Er schreibt das Poem »Verwirrung«.

 

Verwirrung – ein symbolischer Titel, denn auch Juri lebt in einem ständigen Dazwischen: an der Kriegsfront zwischen Leben und Tod, zuhause zwischen Pflicht gegenüber seiner Frau Tonja und Leidenschaft für Lara. Dann bricht die Oktoberrevolution aus: eine Zeit weiterer Irrungen und Wirrungen, der Ungewissheiten, des Leidens.

Juri Schiwago war schon das zweite Jahr Gefangener der Partisanen. Die Grenzen seiner Unfreiheit waren verschwommen. Der Ort seiner Gefangenschaft hatte keine Mauer. Er wurde nicht bewacht, nicht beobachtet. […] Es hatte den Anschein, als gäbe es keine Abhängigkeit, keine Gefangenschaft, als wäre der Arzt frei und verstünde es nur nicht, dies zu nutzen.

 

Der Schauspieler Jürgen Hentsch, 1936 in Görlitz geboren, war bis kurz vor seinem Tod 2011 fast ein halbes Jahrhundert lang vor allem im Fernsehen präsent. Auch war er ein bedeutender Theater-Darsteller und an etlichen Hörspiel-Produktionen beteiligt. Ende der 1990er Jahre hat er Pasternaks „Doktor Schiwago“ aufgenommen. Diese Hörbuch-Fassung ist gegenüber dem Original leicht gekürzt – wobei die Betonung auf „leicht“ liegt, denn die Kürzungen in diesem handlungs- und figurenreichen Epos fallen nur auf, wenn man die Buchausgabe neben sich liegen hat. Hentsch liest ohne Pathos; mit seiner warmen, sonoren Stimme lotet er die verschiedenen Stimmungen sehr genau aus. Manchmal lässt er offen, ob in seinem Erzähl-Ton Shiwagos Bitterkeit mitschwingt oder ob sich darin mehr etwas Mattes, Weltabgewandtes spiegelt.

Leb wohl Lara, auf Wiedersehen in der anderen Welt, leb wohl meine Schöne, leb wohl, mein Glück, du warst so unendlich tief, unerschöpflich, ewig! Ich sehe dich nie wieder, niemals, nie im Leben, niemals sehe ich dich wieder!

 

Was Jürgen Hentsch im Film oft ausgezeichnet hat – das diskrete, zurückhaltende Erkunden eines Charakters – zeichnet auch dieses Hörbuch aus. Hentsch drängt uns nichts auf. Gleichzeitig schwingt in diesem Beherrschten, Stillen seiner Darstellung immer auch eine bedrohliche Komponente mit.

Sie muss nun zu Ende erzählt werden, die einfache Geschichte der letzten acht oder zehn Lebensjahre Juri Shiwagos, in denen er immer mehr abbaute und herunterkam, seine Kenntnisse und Fähigkeiten als Arzt wie auch als Schriftsteller einbüßte, kurzfristig aus dem Zustand von Depression und Verfall herausfand, lebhaft und tätig wurde und nach diesem kurzen Aufflackern wieder in anhaltende Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst und allem auf der Welt verfiel.

 

Wer Pasternaks „Doktor Schiwago“ nicht als Film, sondern das literarische Original erleben möchte, findet in Jürgen Hentsch einen idealen Erzähler, uneitel und präzise. Der am Ende glücklosen Hauptfigur verleiht er eine ernste und zugleich empfindsame Stimme.