"Im Schnellzug nach Haifa" von Gabriele Tergit

Stand: 10.10.2024, 07:00 Uhr

Juden und Araber, Europa und der Orient, die Moderne im biblischen Land. Gabriele Tergit erzählt aus dem Palästina der 1930er Jahre. Eine Rezension von Uli Hufen.

Gabriele Tergit: Im Schnellzug nach Haifa
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg.
Schöffling & Co., 2024.
256 Seiten, 28 Euro.

"Im Schnellzug nach Haifa" von Gabriele Tergit Lesestoff – neue Bücher 10.10.2024 05:57 Min. Verfügbar bis 10.10.2025 WDR Online Von Uli Hufen

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Es ist eine völlig andere Welt. Und eine Frau wie Gabriele Tergit, deren Augen und Verstand von unvergleichlicher Schärfe waren, erkannte das sofort.

"Als wir an Land kamen, sah ich, dass der Mond nicht mehr ging, sondern – ein Boot – auf dem Rücken schwamm, und das Sternbild des Wagens stand nicht mehr auf seinen Rädern, sondern fuhr schief nach unten. Mond und Sterne, letzter himmlischer Trost fürs irdisch leidende Herz, ich erkannte sie nicht mehr."

Es ist der Herbst 1933 und Gabriele Tergit ist gerade mit dem Schiff in Palästina angekommen. Auf der Überfahrt wohl aus Italien hat sie getan, was ihre größte Leidenschaft war: sie hat ihre Mitmenschen und Umgebung beobachtet und beschrieben. Juden aus aller Welt, jeden Alters und Bildungsstandes. Juden wie sie. Und doch wusste Gabriele Tergit sofort: Hier bin ich nicht zu Hause.

Gabriele Tergit war eine aufgeklärte Berliner Intellektuelle, eine liberale Großstadtbewohnerin, eine kulturell vielseitig gebildete und interessierte Person. Ihr missfiel das mediterrane Klima und ihr fehlten der Komfort und die Geschwindigkeit des modernen Großstadtlebens. Aber das Entscheidende war etwas anderes. In einem Brief erklärte Tergit es Jahre später so:

"Mein Leben ist ja mehr von meinem Antizionismus beschattet worden als von dem Rausschmiss aus Deutschland. Ich bin ein großer Bewunderer alles Jüdischen und das Größte der Juden ist ihre Wahrheit oder ihr Wahrheitsfanatismus. Der Zionismus aber ist die Einführung der 'expediency', der politischen List, die Einführung dessen, was einem nützt in das Judentum."

Doch die politische Überzeugung war das eine. Der Alltag in Palästina das Andere. Seinem Zauber konnte sich Tergit nicht entziehen. Tergit beschreibt Tel Aviv, Haifa und Jerusalem in Tausenden verblüffenden Einzelheiten. Die verschiedenen Viertel, die Architektur, Märkte und Geschäfte, Postämter und Synagogen, Straßen und Gassen, Reichtum und Armut, ganz Neues und sehr Altes. Sie besucht die Kibbuzim der muskulösen jüdischen Siedler aus Osteuropa und sie staunt über die Dörfer und Lebensweise der Araber. Aber vor allem beschreibt sie Typen.

Da ist die schöne Petersburger Jüdin, die gegen den Zaren gekämpft hat. Geld ist ihr egal, Gerechtigkeit alles und Gebrüll unerträglich. Da ist die eifrige Berliner Zionistin, die sich nicht bezahlen lassen mag für’s Kartoffelschälen, wo es doch der guten Sache dient. Da sind Schlosser und Kutscher, Fabrikanten und Metzger, Musiker und junge Mütter aus Kurdistan:

"Gestern noch Amulett ans Kind gebunden und magische Kette an den Korb. Heute Amulett weggeworfen und stattdessen sterilisierter Sauger. Gestern Glaube an Dämonen, heute an bakterienfreie Windeln."

Und so entsteht nach und nach ein fabelhaft facettenreiches Portrait des Landes 15 Jahre vor Gründung des Staates Israel: zerrissen zwischen unbändiger, durchaus rabiater Modernität und biblischer Herleitung. Bitter umkämpft schon damals. Und: Ein Kolonialprojekt. Für Gabriele Tergit war das derart offensichtlich, sie erwähnt es nur ganz beiläufig:

"Die arabischen Dörfer sind gewachsen, die jüdischen sind angelegt und noch nicht von Grün umgeben. Die arabischen Häuser sind geworden aus endloser, nie unterbrochener Tradition. Die jüdischen kommen bestenfalls aus dem Katalog oder dem Wettbewerb 'Siedlungshäuschen zu 50-200 Palästina-Pfund'. Das kann nicht anders sein. Europa dringt in den Orient ein. Kolonialgebiet steht neben Uraltem. Uraltes ist überall schön, Kolonialgebiet ist überall hässlich."

Gabriele Tergits Geschichten aus dem Palästina der 30er Jahre gehören wohl zum Erhellendsten und sprachlich Schönsten, was man lesen kann über die Vorgeschichte des Staates Israel. Und darum ist es ein großes Glück, das sie gerade jetzt erscheinen.

Nicht weil Gabriele Tergit "recht" oder "unrecht" hatte mit ihrem Antizionismus. Sondern weil immer wieder daran erinnert werden muss, dass die Juden der Welt keine homogene Gruppe von Menschen sind, die alle dasselbe wollen und denken. Es ist eine Banalität, man schämt sich beinahe, es zu sagen. Aber man muss es betonen. Gerade heute, gerade in Deutschland. Gabriele Tergit und ihr Mann zogen 1938 aus Palästina nach London.