"Nachbarn" von Diane Oliver

Stand: 14.02.2024, 12:00 Uhr

"Nachbarn" von Diane Oliver ist ein faszinierender Erzählungsband, dessen Texte in den 60er Jahren entstanden und dennoch in unsere Gegenwart passen. Die afroamerikanische Autorin, die nur 22 Jahre alt wurde, kann mit ihren Storys nun erstmals entdeckt werden. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Diane Oliver: Nachbarn
Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg.
Mit einem Nachwort von Tayari Jones.
Aufbau Verlag, 2024.
304 Seiten, 24 Euro.

"Nachbarn" von Diane Oliver Lesestoff – neue Bücher 14.02.2024 05:24 Min. Verfügbar bis 13.02.2025 WDR Online Von Ulrich Rüdenaucher

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Manchmal findet man, unvermutet und deshalb umso beglückender, eine Flaschenpost aus vergangener Zeit. Irgendwann vor Jahrzehnten befüllt, geschlossen und losgeschickt, kann sie uns Heutigen die Augen öffnen für eine zurückliegende Welt. So ergeht es einem mit den Erzählungen von Diane Oliver.

Die afroamerikanische Autorin hat ihre Geschichten in den mittleren 60er Jahren geschrieben, vier davon hatte sie in Zeitschriften veröffentlicht. Eine ihrer Storys wurde im Sammelband des O.-Henry-Kurzgeschichten-Preises abgedruckt, neben Texten von Joyce Carol Oates, John Updike und Richard Yates. Dann ein grausamer Schnitt: Oliver kam 1966 bei einem Motorradunfall ums Leben, mit nur 22 Jahren.

Der Großteil der vierzehn Texte, die nun in dem Band "Nachbarn" versammelt sind, schlummerten sechs Jahrzehnte lang im Nachlass. Bis die Literaturagentin Elise Dillsworth sie bei Diane Olivers Schwester und Nichte entdeckte, und eine Entdeckung ist das wirklich: Es sind Geschichten, die in eine Umbruchszeit der amerikanischen Gesellschaft zurückführen.

"Die Weißen bedrohten sie nun schon seit drei Wochen. Einige Briefe wandten sich an die Familie, die meisten jedoch waren an Tommy selbst gerichtet. Ungefähr einmal pro Woche schrieb jemand mit der immer selben Handschrift, Tommy solle mittags lieber nicht in der Schule essen, sonst würde er vergiftet."

Die Titelgeschichte "Nachbarn" handelt vom kleinen Tommy, der als erstes schwarzes Kind in eine weiße Schule geschickt werden soll. Gerichtsurteile Anfang der 1960er erlaubten auch im Süden der USA Schwarzen Bildungseinrichtungen zu besuchen, die bislang Weißen vorbehalten waren.

Für die Kinder und Jugendlichen geriet das zu Spießrutenläufen; die Polizei musste die Schüler schützen. Für die Bürgerrechtsbewegung waren es Erfolge. Diane Oliver aber interessiert, was diese zweifellos wegweisenden Schritte mit den Familien und Kindern anrichteten. Kann man gesellschaftlichen Fortschritt aufwiegen gegen die Angst, Demütigung, Bedrohung, denen ein kleiner Junge ausgesetzt ist?

In ihrer Geschichte "Nachbarn" kann die Polizei jedenfalls nicht verhindern, dass in der Nacht vor dem ersten Schultag Steine durch die Fenster fliegen, immerhin keine Brandsätze. Die ältere Schwester, aus deren Perspektive erzählt wird, empfindet die Aufregung des kleinen Tommy nach und beobachtet die Ohnmacht und Verzweiflung der Eltern:

"'Er ist unser Kind', sagte ihre Mutter. 'Was immer wir entscheiden, es ist unsere Verantwortung.' Ihr Vater hatte die Tasse von sich geschoben und die Hände vors Gesicht geschlagen. Draußen hörte Ellie eine Hupe."

Die Verantwortung lastet schwer auf den Heldinnen von Olivers Geschichten, manchmal ist sie nicht auszuhalten. Winifred, eine talentierte junge Studentin, ist überall die erste Schwarze. Im Gegensatz zu Tommys Eltern sind ihre Aktivisten – denen es um die gute Sache geht. Bittbriefe werden geschrieben, damit Winifred am College angenommen wird.

"'Das wird schon, Spatz…' Ihr Vater tätschelte ihr den Arm. 'Wir würden dich nicht hierherschicken, wenn wir Zweifel hätten, dass du mithalten kannst. Überleg doch mal…' Er lächelte. 'Du wirst die erste Green-Hill-Absolventin sein.'"

Eine gute Sache ist nicht immer die beste für die Betroffenen. Winifred erträgt den Druck nicht. "Die Kammer im obersten Stock", so der Titel dieser Story, ist der Schutzort für ihren Rückzug in eine innere Kammer, in die kaum noch jemand vorzudringen vermag.

Es ist faszinierend, wie sensibel und in unterschiedlichen Tonlagen Diane Oliver in die Erfahrungswelten ihrer schwarzen Protagonistinnen schlüpft: In eine zwischen Überforderung und verzagtem Mut schwankende Frau, die sich alleine um ihre Kinder kümmern muss; eine Hausangestellte, die mit der Übergriffigkeit ihrer Arbeitgeberin zurechtkommt, ihre Kinder kaum durchbringt, während ihr Mann einfach so verschwindet, um nach einem Jahr wieder aufzutauchen – stolz auf einen neu gekauften Gebrauchtwagen, den die Familie sich eigentlich nicht leisten kann.

Olivers Texte sind frei von Sentimentalität; es gibt keine Opfer in diesen Geschichten, aber Menschen, die nicht aus ihrer Haut schlüpfen können und nicht aus einer Gesellschaft, die in den Südstaaten von den Jim-Crow-Gesetzen geprägt ist – von einer Rassentrennung, deren Auswirkungen bis heute zu spüren sind und die durch einen rassistischen Ex-Präsidenten noch einmal aktualisiert wurde.

Die Entdeckung Diane Olivers kommt also gerade recht. Aber sie wäre auch zu jeder anderen Zeit recht gewesen, denn ihre Geschichten erzählen von gelebten, ungelebten und beschwerten Leben. Sie sind Literatur.