"Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" von Haruki Murakami

Stand: 19.01.2024, 12:00 Uhr

Als seine große Liebe spurlos verschwindet, geht der Erzähler in eine ummauerte Stadt. Dort trifft er das Mädchen von einst wieder, aber es erinnert sich nicht mehr an ihn. Pünktlich zu seinem 75. Geburtstag hat Haruki Murakami einen neuen Roman vorgelegt. Eine Rezension von Barbara Geschwinde.

Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
DuMont Buchverlag, 2024.
640 Seiten, 34 Euro.

"Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" von Haruki Murakami Lesestoff – neue Bücher 19.01.2024 05:23 Min. Verfügbar bis 18.01.2025 WDR Online Von Barbara Geschwinde

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Es beginnt mit einer Liebesgeschichte: der Erzähler, ein 17jähriger Junge, verliebt sich unsterblich in ein Mädchen. Deren "wahres" Ich lebt in einer fernen, ummauerten Stadt, so erzählt sie ihm.

Nachdem das Mädchen spurlos verschwunden ist, gelangt der Junge in diese nicht reale Stadt, wo er Traumleser in der Bibliothek wird. Dort trifft er auf das Mädchen, das ihn aber nicht mehr wiedererkennt, wie David Nathan im zeitgleich erscheinenden Hörbuch liest:

"'Vielleicht muss ich die Stadt verlassen', vertraue ich dir an.
'Aber vorher möchte ich dir noch etwas sagen.'
'Und?'
'Ich bin dir vor langer Zeit schon einmal außerhalb der Mauer begegnet.'
Du bleibst stehen, ziehst deinen grünen Schal fester und siehst mich an.
'Mir?'
'Ja. Deinem anderen Ich – also deinem Ich jenseits der Mauer.'
'Meinst du, das war mein Schatten?'
'Ich glaube schon.'
'Mein Schatten ist schon lange tot', sagst du in demselben ungerührten Ton, in dem du verkündet hast, dass es in dieser Nacht nicht so viel schneien wird."

Der Schatten ist in dieser Geschichte ein wesentlicher Bestandteil des Menschen, der ohne ihn stirbt. Ohne Schatten fehlt dem Menschen auch die Seele; seine Erinnerungen und Gefühle.

In "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" verschwimmen die Grenzen zwischen Phantastischem und Realem; auch Lebende und Tote vermischen sich. Der Wechsel von einer Welt in die andere ist durch pure Willenskraft möglich. Vieles bleibt geheimnisvoll und wenig greifbar, aber die Träume bieten einen Schlüssel zum Verständnis des Lebens.

Der Junge entscheidet, dass er nicht ohne Schatten leben möchte und verlässt die ummauerte Stadt. Zurück in der realen Welt arbeitet er im Buchhandel. Auch wenn er weitere Freundinnen hatte; eine langfristige Liebesbeziehung geht er nicht mehr ein.

Nach einem Traum beschließt er, in der Provinz Fukushima die Stelle eines Bibliotheksdirektors anzunehmen. Die Erinnerung an das Mädchen in der ummauerten Stadt bleibt nach dem Ortswechsel lebendig. Auch wenn ihm das Leben in dem kleinen Dorf mit dem Fluss gefällt:

"Wenn ich dort stand, wurde ich immer traurig. Es war die Erinnerung an eine tiefe Traurigkeit, die ich vor langer Zeit erlebt hatte. Ich erinnerte mich noch gut daran. Es handelte sich um die Art von Traurigkeit, die man nicht in Worte fassen kann und die auch nicht mit der Zeit verschwindet. Sie hinterlässt unsichtbare Wunden an unsichtbaren Stellen. Wie sollte man mit so etwas umgehen?"

Was bleibt, sind die Erinnerungen an Gefühle. Die Sprache des Romans ist sehr poetisch. Es tauchen schräge Vögel auf, die in der japanischen Gesellschaft eher Ausnahmeerscheinungen sind. Einer von ihnen ist der pensionierte Bibliotheksleiter Koyasu:

"Als wir uns eines Tages unterhielten, erlaubte ich mir die Frage, wann er angefangen habe, Röcke zu tragen, und er erklärte es mir in einem fröhlichen Ton, als wäre es etwas ganz Selbstverständliches. 'Wenn ich einen Rock trage, fühle ich mich wie die Zeilen eines schönen Gedichts.'"

"Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" ist einerseits ein ganz typischer Murakami, der in der Kontinuität seiner vorherigen Bücher steht und die echten Fans wieder einmal begeistern wird. Aber auch für Nicht-Kenner ist der Roman ein großer Genuss. Neben einer packenden Geschichte ist die Handlung durchzogen mit philosophischen Fragestellungen, beispielsweise die nach der Kontinuität von Leben und Tod.

Die größte Neuerung ist, dass der Protagonist aus dem Teenager- oder jungen Erwachsenenalter herauswächst und im zweiten Teil des Romans als 45jähriger Bibliotheksleiter auftaucht. Beinahe so, als würde Murakami sich von einem jüngeren Ich verabschieden.

Ein klassisches Alterswerk ist der Roman dennoch nicht. Die ursprüngliche Erzählung, auf der dieser Roman basiert, hat Haruki Murakami bereits vor 40 Jahren verfasst. Jetzt hat er den Stoff noch einmal aufgegriffen, umgeschrieben und um einen zweiten und dritten Teil ergänzt.

Sechs Jahre mussten die Murakami-Fans auf einen neuen Roman warten. Und wieder ist ihm ein packender, zutiefst menschlicher und feiner Roman gelungen.