"Über den Strom" von Rosa Liksom

Stand: 26.06.2024, 07:00 Uhr

Zehntausende Menschen flüchteten 1944 aus Finnland nach Schweden. Mittendrin ein Mädchen mit den Kühen vom heimischen Hof. In "Über den Strom" erzählt Rosa Liksom die Geschichte einer Vertreibung aus der Heimat. Eine Rezension von Dorothea Breit.

Rosa Liksom: Über den Strom
Übersetzt von Stefan Moster.
Penguin, 2024.
304 Seiten, 24 Euro.

"Über den Strom" von Rosa Liksom Lesestoff – neue Bücher 26.06.2024 05:49 Min. Verfügbar bis 26.06.2025 WDR Online Von Dorothea Breit

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An einem kalten, nebelverhangenen Septembertag machen sie sich mit den Kühen auf den Weg, wie der Vater es angeordnet hat, als er auf Urlaub zu Hause war.

"Er sagte, der Russe kann jeden Tag kommen, oder wir müssen anfangen, uns mit den Deutschen zu schlagen. Jedenfalls sollt ihr samt den Kühen schleunigst über den Strom nach Westen. Wie düster er ist, dachte ich bei mir. Er war ganz in sich zusammengesunken, und seine Hände hingen einfach so herab. Es sah aus, als hätte er aufgegeben. (...) Mein Vater war gerade mal einen Tag und eine Nacht daheim gewesen, als der Befehl kam, wieder in den Kampf zu ziehen."

Die schwangere Mutter und der Onkel fahren mit den nötigsten Papieren in der Tasche in einem Lastwagen ab. Das halbwüchsige Mädchen treibt das Dutzend Kühe des Hofs in Gemeinschaft mit den anderen Frauen, Kindern, Mägden und Alten des Dorfs und deren Vieh Richtung Westen.

"Beim Sumpf überholte uns ein Lastauto der finnischen Armee. Auf der Ladefläche standen Burschen, die ich nicht kannte. Sie sahen fast witzig aus. Sie hatten nämlich zu große Waffenröcke an und schwere Patronengürtel um die dünnen Hälse hängen. (...) Ich empfand tiefes Mitleid mit den Burschen, weil ich in ihnen unseren Jakke und unseren Sakke sah, die nicht mehr lebten. Auch die waren noch Buben gewesen, als sie im Dezember neununddreißig freiwillig zum Kämpfen an die Ostfront gezogen waren."

Es herrscht großes Durcheinander. Das Vieh läuft aufgescheucht hierhin und dorthin. Die beiden Mädchen, die namenlose Ich-Erzählerin in Rosa Liksoms Roman "Über den Strom" und Katri, die aus Karelien geflüchtete Freundin, versuchen die Herde beisammen zu halten. Tagelang ziehen sie bis zur Erschöpfung dahin, die Nächte sind frostig, es beginnt zu schneien. Abends melken sie die Kühe, sammeln Beeren und Pilze zum Essen.

Erst als eine Kuh vor Schmerzen brüllt und auf freiem Feld zu kalben beginnt, hält die Kolonne zur Rast an. Rosa Liksom beschreibt anrührend detailgenau das Mitgefühl des Mädchens mit den Tieren, als hätte sie selbst einmal mit eisigen Fingern und hungrigem Bauch Kühe gehütet und gemolken.

"Inzwischen war die Liina hinter die anderen zurückgefallen. Sie humpelte schwer, dachte bei jedem Schritt an ihr krankes Bein. Ich rannte zu ihr und sah mir den Huf an. Bis zum Knochen war der Nagel aufgerissen. Es gab mir einen Stich ins Herz, das zu sehen. Ihre Augen waren voller Qual. Sie hinkte und guckte mich zwischendurch flehend an, aber was hätte ich tun können. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie mit der Gerte wieder zur Herde zu treiben."

Am Himmel ziehen Kraniche gen Süden, während die Evakuierten von Dorf zu Dorf durch gerodete Landschaft trotten, vorbei an verminten Feldern. Hie und da lagern sie an Gutshöfen, jemand kocht Erbensuppe, Verwundete werden versorgt, Rekruten verteilen Kleidung und Nahrungsmittel. Nachts liegen sie neben dem erschöpften Vieh im Stroh.

Der dumpfen Gleichförmigkeit des Weiterziehens ähnlich fließt die lineare, detailgenaue Schilderung in kindlich einfacher Sprache dahin, unterbrochen von phantastischen Naturbeobachtungen und philosophischen Reflexionen der Ich-Erzählerin, Träumen und Erinnerungen an das unbeschwerte Leben auf dem Hof zu Hause.

"Oma sagte immer, die Sterne sind die Kerzen des Himmels, vor denen muss man keine Angst haben. Die bleiben am Himmelszelt. Die fallen nicht herunter, auch wenn sie manchmal voller Eifer losfliegen, so wie der Stern von Bethlehem."

Es sind poetische, womöglich auch vom Genuss zu vieler Waldbeeren und -pilze beflügelte Momente wie diese, die dem wissbegierigen Mädchen Kraft und abenteuerlichen Mut verleihen, eisiger Kälte, Hunger, Heimatlosigkeit und der Unbill des Lagerlebens zu trotzen mit dem toten Brüderchen im Arm. In seiner Phantasie erfindet es sich eine eigene und gute Welt. Dann endlich erreichen sie das Ufer des Stroms.

"Überall sah man Deutsche mit Runenabzeichen. Auf der Evakuierungsfähre herrschte ein so dichtes Gedränge, dass die Deutschen alle Menschen und die Tiere, die sie mitschleppten, wieder ans Ufer trieben. Es war ein hässlicher Anblick, wie die Kühe ausrutschten, die Menschen zwischen den Viechern eingeklemmt wurden und die Deutschen brüllten."

In Schweden sind sie in Sicherheit. Über Hunderttausend Flüchtlinge aus Finnland, Norwegen, den baltischen Ländern und Dänemark harrten damals hier aus, erzählt das Mädchen in dieser anrührenden Geschichte über Vertreibung und Flucht aus finnischer Perspektive im Zweiten Weltkrieg. Die Odyssee der Ich-Erzählerin ist noch lange nicht zu Ende. Denn als sie wieder zurückdarf in die niedergebrannte Heimat, wird nichts mehr so, wie es einmal war.