"Altern" von Elke Heidenreich

Stand: 24.06.2024, 07:00 Uhr

Elke Heidenreich erzählt über das "Altern" – und es gelingt ihr ein charmant-schlauer Essay über Knittergesichter, Altersdiskriminierung, den selbstbestimmten Tod. Eine Rezension von Nicole Strecker.

Elke Heidenreich: Altern
Hanser Berlin, 2024.
112 Seiten, 20 Euro.

Auftritt der Autorin mit Wucht gleich auf der ersten Seite ihres Essays.

"Ich habe mein Leben komplett in den Sand gesetzt."

Na, das kann ja heiter werden. Wird das nun die Lebensabrechnung einer biestigen Alten oder was?

"Schönes Haus, gute Freunde, netter Hund, keine Sorgen, achtzig ist kein Problem, und wenn ich nachts wach liege, bin ich dankbar, für alles, für ein so langes Leben in einem demokratischen Land ohne Krieg."

Das liest man, wenn man die erste Seite hinter sich gebracht hat, auf der Elke Heidenreich in 19 kurzen Zeilen abmotzt über ihr verpfuschtes Leben: Über ihre Kindheit nach dem Krieg, über zerstrittene Eltern, gefühlskalte Pflegeeltern, Krankheiten mit schlechten Überlebensprognosen von Ärzten, Scheidungen und anderes Scheitern.

"Altern" von Elke Heidenreich Lesestoff – neue Bücher 24.06.2024 05:18 Min. Verfügbar bis 24.06.2025 WDR Online Von Nicole Stecker

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Dann einmal umgeblättert und dieselben Fakten werden ganz anders wiederholt, aus altersweiser und versöhnlicher Perspektive. Und da ist er dann, der vertraut heitere Heidenreich-Sound, immer direkt vom Herzen hinaus in die Welt. Ein großartiger Doppel-Anfang für diesen feinen kleinen Essay von nur 110 Seiten, der damit ehrlicherweise zugibt: Wie die Lebensbilanz einer impulsiven Heidenreich ausfällt, das ist sehr tagesformabhängig – und ist nicht ohnehin das Leben immer bloß ein Entwurf?

"Das Leben ist eine Kette von Irrtümern, sind die zu Ende, ist alles zu Ende. Denn nach jedem Irrtum geht es immer weiter, es gibt immer Wege und Auswege. Und manchmal, auch das habe ich gelernt, muss man einfach alles loslassen und nichts tun."

Elke Heidenreich ist nun also auch schon 81 Jahre alt, gefühlt aber eher 60 und dabei unverändert: ein weibliches Role-Model mit Mission. So hat sie jetzt ein putzmunteres, wunderbar kluges Buch übers Altern geschrieben, das ja bekanntlich nichts für Feiglinge ist – und damit genau das Richtige für die immer tapfere Heidenreich, die noch jedem Löwen unerschrocken ins Maul geschaut hat.

Und natürlich war sie beim Schreiben nicht allein: Ihre literarischen Hausgeister haben sie umschwebt und ihr viel Schönes eingeflüstert: Schopenhauer, Julian Green, Simone de Beauvoir, Jane Campbell oder Jean Paul, der die Metapher prägte, dass das Leben ein vom Schicksal abgeschossener Pfeil in Richtung Tod sei. Sie alle zitiert Heidenreich und veröffentlicht nun nicht einfach eine Miniatur-Autobiografie, sondern umkreist die großen Themen des Alterns in unserer Zeit: Da wäre etwa die Altersdiskriminierung:

"Auf keinen Fall sollen wir Meinungen haben, uns beklagen, auffallen oder gar – sehr heikles Thema! – noch eine Sexualität leben. Ach, ihr habt wirklich keine Ahnung."

Anderes Thema: die sich häufenden Verluste...

"Das ist die entsetzlichste Seite des Altwerdens: dass sich die Reihen so grausam lichten."

Oder die Entfremdung von einer sich viel zu rasant digitalisierenden Welt:

"Meine Freundin hat mir geholfen, einen Instagramaccount (schon das Wort!) aufzumachen. (...) Macht das jetzt meine Welt größer oder schäbiger? Ich weiß es immer noch nicht, wohl beides."

Elke Heidenreich fällt keine klischierten Rentnerinnen-Urteile über eine Gegenwart, die schon die "Gen X", die Generation nach ihr kaum mehr begreifen kann. Denn auch im hohen Alter ist sie viel zu beweglich im Kopf, um nicht weiter ehrlich und selbstkritisch die eigenen temperamentvollen Impulse zugleich zu durchleben und selbstkritisch zu analysieren. Schon immer hat sie so präzise wie kaum eine andere den Widerspruch zwischen Gefühl und Intellekt verbalisiert, und eben das macht auch ihren Essay nun wieder so charmant und schlau.

Völlig zu Recht hat das Büchlein kurz nach seinem Erscheinen die Bestseller-Listen geentert, als philosophische Trostlektüre, als zorniges Pamphlet. So gibt es auch zwei Schlusspassagen für diesen Text. Das eine Ende eine klingt so:

"Ich bin tot, aber ihr seid es auch, jetzt schon, ihr habt mich alle miteinander enttäuscht und entsetzt und angewidert, fahrt zur Hölle, ich geh schon mal vor und heize da für euch ein."

Im anderen Ende steht Elke Heidenreich in ihrem Garten und blickt den Zugvögeln hinterher.

"Ich freu mich jedes Jahr darauf, und ich denke jedes Jahr: wie oft noch? (...) Der Countdown läuft, der Pfeil fliegt."