"Unsereins" von Inger-Maria Mahlke

Stand: 22.11.2023, 12:00 Uhr

Buchpreisträgerin Inger-Maria Mahlke hat erneut politische und Familiengeschichte miteinander verbunden. Diesmal in "Unsereins", ihrem neuen Roman. Er spielt in Lübeck, der Stadt, in der die Autorin aufgewachsen ist. Eine Rezension von Katja Weise.

Inger-Maria Mahlke: Unsereins
Rowohlt, 2023.
496 Seiten, 26 Euro.

"Unsereins" von Inger-Maria Mahlke Lesestoff – neue Bücher 22.11.2023 04:27 Min. Verfügbar bis 21.11.2024 WDR Online Von Katja Weise

Download


Ist es möglich, einen Familienroman über Lübeck zu schreiben, ohne an DEN anderen zu denken, an "Buddenbrooks" von Thomas Mann? Wohl kaum. Insofern ist es klug und – abgesehen davon – faszinierend zu lesen, wie Inger-Maria Mahlke mit diesem literarischen Schwergewicht umgeht. Sie bezieht es mit ein, beginnt mit ihrer Erzählung im Jahr 1890, also einige Jahre nach dem Ende von "Buddenbrooks". In "Unsereins" geht es um das

O-Ton Inger-Maria Mahlke:
"...was Thomas Mann prägte und was in die ‚Buddenbrooks‘ eingeflossen ist. Es geht mir sehr stark um dieses konservative, auch recht antisemitische Milieu, in dem Thomas Mann groß geworden ist und diese Haltung sieht man dann auch in den Personenbeschreibungen oder den Beschreibungen von politischen Vorgängen in den ‚Buddenbrooks‘."

1890 ist Thomas – "Tomy" – 15, die Mitschüler nennen ihn spöttisch den "Pfau", allzu gern lässt er sich bewundern. Im Mittelpunkt steht jedoch die ebenfalls gut situierte jüdische Familie Lindhorst mit ihren acht Kindern. Mahlke begleitet sie bis ins Jahr 1906. Aber nicht nur sie. Sie zeigt auch das Leben der Dienstboten. Ida, das Mädchen, muss rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Nach Jahren meldet sie sich heimlich zu einem Stenokurs an:

O-Ton Inger-Maria Mahlke:
"Der Arbeitstag war ungefähr 18 Stunden, und die Hoffnung von Ida ist, durch einen Job als Tippmamsell – das war die erste Bezeichnung für Sekretärin oder für Frauen, die im Büro arbeiteten – ein selbstgestaltetes Leben führen zu können."

"Niemand scheint sich an ihrer Anwesenheit zu stören, niemand würdigt sie eines Blickes. Ohne aufzusehen trägt der Referent Ida Stuermann in die Teilnehmerliste für den Vier-Uhr-Kurs ein. Es mache nichts, wenn man wegen der Schicht nicht jede Woche kommen könne, hat er zu dem vor ihr Stehenden gesagt."

Charlie Helms ist als Lohndiener ebenfalls abhängig von den wohlhabenden Familien, allerdings kann er sich seine Arbeitgeber inzwischen aussuchen. Er hilft spielt eine wichtige Rolle auf dem Heiratsmarkt, hilft beim Knüpfen gesellschaftlicher Kontakte.

O-Ton Inger-Maria Mahlke:
"Der Gesellschaftsbesuch der damaligen Zeit dauerte im Durchschnitt 7-10 Minuten und war in seinem Ablauf komplett festgelegt. Also von Ankommen, Visitenkarte abgeben bis zu Begrüßung, Gesprächsthemen und dann nach 7-10 Minuten der elegante Abschied."

 

Doch Charlie ist schwul, ein Nachbar verrät ihn, und Charlie landet im Gefängnis. Inger-Maria Mahlke entfaltet über knapp zwanzig Jahre ein breites gesellschaftliches Panorama: Sie zeigt den Aufstieg der Sozialdemokratie, den die starre Kaufmannschaft nicht verhindern kann, denn die Industrialisierung macht auch vor Lübeck nicht Halt; sie beschreibt die Macht der Männer, im Senat und in der Familie. Nur ganz allmählich können sich die Frauen zumindest ein wenig draus befreien, doch viel Freiraum ist nicht in dem durch Stereotype geprägten System.

Mahlke hat umfänglich recherchiert, geschickt verknüpft sie Historie und Fiktion. Dabei liegt die Stärke auch in dem, was sie nicht ausschmückt, weil die Fantasie der Leser die Lücken von selbst füllen kann. Sichtlich Spaß hat sie an ironischen Brechungen und an dem Spiel mit den "Buddenbrooks". 1901 erscheint der Roman von "Tomy" und sorgt für viel Unruhe, auch bei Familie Lindhorst:

"‘Wir kommen darin vor.‘ Sie blickt erstaunt auf. ‚Du kannst dich freuen, dich nennt er eine Schönheit.‘ (…) ‚Eingefallene Brust, gelblicher Teint, spitzige lückenhafte Zähne – so beschreibt er mich.‘"

Wer ist wer – auch mit "Unsereins" ließe sich dieses Spiel spielen. Familie Lindhorst hat Mahlke zum Beispiel der Familie "Hagenström" in "Buddenbrooks" nachempfunden. Aber noch besser ist es, diesen virtuos komponierten Roman einfach zu lesen. Und vielleicht gleich noch einmal zu lesen. So viel steckt drin.