"Auf den Gleisen" von Inga Machel

Stand: 02.02.2024, 12:00 Uhr

In ihrem ersten Roman erzählt Inga Machel von der nachgetragenen Liebe eines Sohnes zu seinem toten Vater. Eine Rezension von Andreas Wirthensohn.

Inga Machel: Auf den Gleisen
Rowohlt, 2024.
160 Seiten, 22 Euro.

"Auf den Gleisen" von Inga Machel Lesestoff – neue Bücher 02.02.2024 05:07 Min. Verfügbar bis 01.02.2025 WDR Online Von Andreas Wirthensohn

Download

Viel ist nicht übrig geblieben von Marios Vater. Der ICE, auf den er gewartet hat irgendwo auf den Gleisen im Brandenburgischen, war 200 Kilometer in der Stunde schnell. Identifiziert wurde der Leichnam nur anhand der Marke eines im Gleisbett gefundenen Winterstiefels.

Schon zuvor hatte der Vater mindestens einen Selbstmordversuch unternommen. Er war in psychiatrischer Behandlung, musste jede Menge Tabletten schlucken und fand doch keinen wirklichen Ausweg mehr aus dem Unglücklichsein. An einem Januartag setzte er mit 50 Jahren seinem Leben ein Ende, und jetzt, Jahre später, erinnert sich Mario mit seltsam gemischten Gefühlen an die Traurigkeit, die sein Vater schon immer in sich getragen hatte:

"Spätabends setzte sich mein Vater manchmal zu uns Kindern ans Bett und weinte. Seine Sorgen waren nie besonders rätselhaft, es ging um Mutter, die Familie, einen Streit, die Arbeit oder Geld. Viele davon kamen in regelmäßigen Abständen wieder und schienen für meinen Vater jedes Mal so ausweglos und unerträglich, als würde eine Welt zusammenbrechen. (…) Immer hörte er irgendwann mit dem Weinen wieder auf. Manchmal lachte er dann sogar. Oder er nahm uns mit in die Küche (…) und machte uns dreien etwas zu essen. Ron und ich blieben lange wach, saßen in Schlafanzügen auf der Eckbank und wurden albern, während er sich einen Kaffee brühte und die Nudeln vom Mittag aufwärmte. Die Abende, an denen mein Vater weinte, waren deswegen oft schöner als andere."

Mario lebt inzwischen in Berlin, zu seinem Bruder Ron und zu seiner Mutter hat er kaum noch Kontakt, und auch ihm droht sein Leben zu entgleiten. Er trinkt viel zu viel, stürzt regelmäßig ab, hat keine feste Beziehung und geht keiner geregelten Arbeit nach.

Eines Tages begegnet er zufällig einem Drogensüchtigen aus der Nachbarschaft, in dem er seinen Vater zu erkennen glaubt, und folgt diesem Menschen fortan halbe Tage lang durch Berlin. Er wechselt im Laufe der Wochen und Monate kein einziges Wort mit dieser Person, die er nur "P." nennt, berührt ihn nur ein einziges Mal, als dieser irgendwo auf einer Parkbank seinen Drogenrausch ausschläft, und begleitet ihn ansonsten wie eine Art Stalker durch die Stadt.

Dieser P., der seinen eigenen Lebenskampf führt und ähnlich wie der Vater immer wieder still vor sich hin weint, wird zu einer Art Stellvertreter: für den abwesenden Vater und zugleich für das eigene Leben, das sich in eine ähnlich tragische Richtung zu entwickeln droht.

"Wer P. wirklich war, habe ich nie versucht herauszufinden. (…) Ich wollte einfach nie etwas Genaueres über ihn wissen, ich war nicht interessiert an einer Wahrheit über ihn. Oder über uns. Ich schätze, es kam einfach darauf an, dass P. da war. Dass ich im dunklen Spiegel seines Lebens meine eigenen Umrisse erkennen konnte, wahrnehmen, dass es mich noch gab."

Dieser Unbekannte wird einerseits zum Katalysator zahlreicher Erinnerungen an den Vater, an die eigene Kindheit, an das Aufwachsen im ländlichen Brandenburg. Und er wird zugleich zu einer Art Rettungsanker, zum dunklen Gegenbild, das Mario einen Weg ins Leben weist.

Zwei der berühmtesten Väter-Romane der bundesdeutschen Literatur waren "Suchbild" von Christoph Meckel und "Nachgetragene Liebe" von Peter Härtling. Die Titel dieser beiden Bücher beschreiben ganz wunderbar Inga Machels Romandebüt: Marios suchende Erinnerungen an den Vater bleiben bruchstückhaft, verschwommen, voller Fragezeichen und Leerstellen.

Und doch will der Erzähler seinem Vater all die Liebe hinterhertragen, die zu dessen Lebzeiten zwischen ihnen nicht möglich oder nur ansatzweise zu finden war. Mario erinnert sich an eine einzige Woche in einem Sommer, in dem das Verhältnis zwischen ihnen so war, wie es eigentlich hätte sein sollen.

"Die Woche mit meinem Vater war vielleicht wie das Blühen einer dieser seltenen Pflanzen, das nur alle hundert Jahre vorkommt, und danach stirbt die Pflanze einfach ab. Als hätten wir beide im selben Augenblick dasselbe gesehen, oder als wären wir eine Episode lang in denselben Traum verwickelt gewesen, geträumt von uns selbst, oder einer höheren Gewalt."

Inga Machels Roman ist von bemerkenswerter sprachlicher Prägnanz und schafft es souverän, auch nur den geringsten Anschein von Kitsch oder falschem Pathos zu vermeiden.

"Auf den Gleisen" ist ein todtrauriges Buch, in dem am Ende, ganz ohne Drama und zugleich mit großer Eindringlichkeit, dann doch das Leben triumphiert. Ein so reifes, umwerfendes Debüt gab es lange nicht mehr.