"Caspar Hauser" von Jakob Wassermann

Stand: 04.07.2024, 19:50 Uhr

"Caspar Hauser" von Jakob Wassermann ist historischer Roman über eine der rätselvollsten Figuren des 19. Jahrhunderts. Die Hörbuch-Fassung mit Walter Hilsbecher lebt von einem erfreulich unaufgeregten Erzähl-Ton.

Jakob Wassermann: Caspar Hauser
Gelesen von Walter Hilsbecher
Der Audio Verlag, MP3-CD, Laufzeit: 10 h, 26 Min., ca. 15 Euro

"Caspar Hauser" von Jakob Wassermann (Hörbuch) Lesestoff – neue Bücher 11.07.2024 05:29 Min. Verfügbar bis 11.07.2025 WDR Online Von Christoph Vratz

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Was für eine rätselhafte Erscheinung, die da am Nachmittag des Pfingstmontags 1828 in Nürnberg erstmals gesichtet wird!

"In den ersten Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg sonderbare Gerüchte über einen Menschen, der im Vestnerturm auf der Burg in Gewahrsam gehalten wurde und der sowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatpersonen täglich mehr zu staunen gab."

Ein Jüngling, ungefähr 16 Jahre alt, ein Fremder, verstört und zu keiner Aufklärung seiner Herkunft fähig.

"Niemand wusste, woher er kam. Er selbst vermochte keine Auskunft darüber zu erteilen, denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind; nur wenige Worte konnte er deutlich aussprechen, und diese wiederholte er immer wieder mit lallender Zunge, bald klagend, bald freudig, als wenn kein Sinn dahintersteckte und sie nur unverstandene Zeichen seiner Angst oder seiner Lust wären."

Die Gerüchte um diese seltsame Figur reichen so weit, dass man in ihm einen Erbprinzen zu erkennen glaubt. Kurz bevor Kaspar Hauser mit 21 Jahren im fränkischen Ansbach stirbt, behauptet er, Opfer eines Attentats geworden zu sein. Oder war es Selbstmord? Jakob Wassermann zählt zu den heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Erfolgs-Autoren des frühen 20. Jahrhunderts. Seine Vorliebe für historische Stoffe zeigt sich in Werken wie "Christoph Kolumbus" oder dem Roman "Caspar Hauser". Darin verbindet Wassermann das Schicksal dieser verbürgten und skandalisierten Figur Kaspar mit einer modernen, psychologisierenden Erzählweise.

"Soweit Caspar sich entsinnen konnte, war er immer in einem dunkeln Raum gewesen, niemals anderswo, immer in demselben Raum. Niemals den Menschen gesehen, niemals seinen Schritt gehört, niemals seine Stimme, keinen Laut eines Vogels, kein Geschrei eines Tieres, nicht den Strahl der Sonne erblickt, nicht den Schimmer des Mondes. Nichts vernommen als sich selbst, und doch nichts von sich selber wissend, der Einsamkeit nicht innewerdend."

Wassermann schildert, wie Caspar Hauser einen Weg zu sich selbst sucht – ein Mensch, der gewaltsam an seiner eigenen Entwicklung gehindert wurde und bis zuletzt gehindert wird. Bei der jetzt wieder zugänglich gemachten Lesung mit Walter Hilsbecher – eine Rundfunk-Produktion aus dem Jahr 1978 – wird Wassermanns Roman in einer behutsam gekürzten Form wiedergegeben. Schade, denn eine vollständige Fassung wäre sicher wünschenswert gewesen. Dafür bietet dieses Hörbuch einige eingeschobene Erklärungen, die ebenfalls von Hilsbecher gelesen werden und – mitten in die Erzählung gepflanzt – ein bisschen unvermittelt und überraschend wirken.

"Bevor wir das erste Kapitel unserer Lesefolge beenden, ein paar Worte zu Motivation: Warum diesen Roman von einem Bestseller-Autor aus dem ersten Jahrhundert-Drittel, der heute beinahe vergessen ist? Warum, wenn es denn einen Grund hat, zu diesem Zeitpunkt?"

Diese Fragen und die folgenden Antworten mögen in ihrem Duktus und ihrer Sprache heute ein wenig antiquiert wirken, doch dienen sie einem besseren Verständnis – sowohl was den Caspar-Hauser-Stoff betrifft als auch Autor Jakob Wassermann. Vor allem geht es in diesen Einschüben darum, Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen dem historisch Verbürgten und der Romanhandlung festzustellen. Denn:

"Wie zum Geheimnis der Insel „Atlantis“ gibt es zum Fall Kaspar Hauser ungezählte Vermutungen, Auslegungen, Hypothesen. Aber auch die der einleuchtendsten oder geistreichsten Art haben nicht das Geheimnis gelüftet."

Zurück zum Roman: Walter Hilsbecher, der 2015 knapp hundertjährig gestorben ist, liest diese spektakuläre Geschichte auf wohltuend unspektakuläre Weise – vielleicht auch, weil Hilsbecher selbst als Autor tätig war. Wo die psychologische Analyse des Schriftstellers Wassermann bis in die Bezirke unbestimmter Ahnungen führen, gibt sich Hilsbecher als sachlicher und auch in den Dialogen fast schon demonstrativ unaufgeregter Vermittler – als wolle er damit dem zweiten Teil des Roman-Titels stimmlich gerecht werden: "Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens".

"Da packte Caspar in höchster Herzensnot die Hand des Lehrers. 'Ach Gott, ach Gott, so abkratzen müssen mit Schimpf und Schande!' stieß er jammernd hervor. Das waren seine letzten Worte. Er kehrte sich ein wenig auf die rechte Seite und drehte das Gesicht zur Wand. Jedes Glied seines Körpers starb einzeln ab."

Es ist zweifellos ein Gewinn, dass Jakob Wassermanns Roman "Caspar Hauser" wieder als Hörbuch verfügbar ist – zwar gekürzt, dafür mit Erläuterungen. Walter Hilsbecher meidet erfreulicherweise und auf konsequente Weise jedes Pathos. So wirkt der kurzweilige, spannende Romantext umso unmittelbarer.