"Das erste Licht des Sommers" von Daniela Raimondi

Stand: 04.07.2024, 19:49 Uhr

Die Geschichte der italienischen Familie Casadia ist über Jahrhunderte hinweg eng verbunden mit dem Dörfchen Stellata. Das gilt auch für die neuen Generationen, selbst wenn sie in ein weltläufigeres modernes Leben fliehen.

Daniela Raimondi: Das erste Licht des Sommers
Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
Ullstein, 432 Seiten, 24.99 Euro

"Das erste Licht des Sommers" von Daniela Raimondi Lesestoff – neue Bücher 10.07.2024 05:25 Min. Verfügbar bis 10.07.2025 WDR Online Von Jutta Duhm-Heitzmann

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Der Anfang – dramatisch und mit Folgen für das ganze Leben:

"Geboren wurde ich an einem verschneiten Tag mit weißen Dächern, die Vögel saßen stumm auf dem Bäumen."

Der kälteste Tag des Winters 1947; die Geburt ist schwer, bis die Hebamme erleichtert zum Vater läuft:

"Ein Mädchen, so schön wie das erste Licht des Sommers."

Mit einem Namen als Programm: Norma; wie die Heldin in Bellinis berühmter Oper, pathetisch und voller Tragik. Denn die eisige Kälte des Geburtstages wird die ein Leben lang nicht los: die Mutter, Elsa, kann ihr Kind nicht lieben, vielleicht weil sie zu jung ist, gar nicht heiraten wollte, sich oft weit weg wünscht. Weibliche Wärme erlebt Norma erst, als der Vater sie zu seinen Eltern bringt, ins dörfliche Stellata. zu Großmutter Neve, eine der starken Frauen, die schon immer mit Kraft und Eigensinn die Familie dominiert haben.

"Vor allem waren es ihre Augen, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen: sie schimmerten wie Perlen, und wenn sie auf dich gerichtet waren, hattest du das Gefühl, sie könnten in dir lesen wie in einem Buch."

Vertraute Figuren für alle, die Daniela Raimondis Bestseller "An den Ufern von Stellata" gelesen haben: die Geschichte der Familie Casadio, tief verbunden mit ihrem Heimatdorf in der Emilia Romagna. "Das erste Licht des Sommers" schreibt diese Geschichte fort wobei Neueinsteiger sich zumindest anfangs im Personengeflecht der Sippe verirren können. Doch das verliert sich, denn der Schwerpunkt liegt auf dem Leben der nächsten Generationen, zu denen auch Norma gehört, nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und in einem sich rasant verändernden Land. Noch ist in Stellata wenig davon zu spüren, als sie dort Elia trifft, bester Freund ihrer Kindertage und schließlich der Mann ihres Lebens.

"Es war Liebe auf den ersten Blick. Naja, fast auf den ersten Blick, denn als ich sie zum ersten Mal sah, hat sie mir ans Schienbein getreten, und ich habe sie an den Haaren ge­zogen. Aber man sieht sofort, dass das Schicksal uns zusammenbringen wollte."

Sie verlieren sie sich aus den Augen, beide auf der Suche nach einem neuen, moderneren Leben, treffen sich zufällig in London wieder. Norma, durch ihre schwierige Mutterbeziehung misstrauisch und verletzt, lässt die beginnende Liebe zwar zu, aber Elia muss ihr ver­sprechen, sie nie zu betrügen - illusorisch und naiv.

"'Als wir geheiratet haben, dachte ich, es sei für immer', sagte Norma, als er bereits auf der Schwelle stand. 'Das wird es auch sein', sagte Elia. Und dann ging er."

Norma und Elia – die eine Ebene der Geschichte. Die zweite, die Rahmenhandlung, ist eine letzte Reise Normas mit ihrer Mutter nach Stellata. Elsa will dort sterben, Nor­ma pflegt sie bis zu ihrem Tod und lernt jetzt, nach langen Rückblicken und Gesprächen, die Vergangenheit zu verstehen - und verzeihen.

"Ich sah als Kind oft, dass du traurig warst, und ich hatte beschlossen, als Erwachsene nicht so zu sein wie du. Ich war in der Weltgeschichte unterwegs, um das Glück zu suchen, (...) doch dein Unglück hat mich immer verfolgt, und an Ende Ende musste ich zuge­ben, dass ich dir mehr ähnelte, als mir lieb war."

Daniela Raimondi hatte mit ihrem Roman "An den Ufern von Stellata" 2020 einen Bestseller geschrieben, dessen Erfolg sie selbst überraschte. Eine Familiensaga, ausgreifend, spannend und doch von ruhiger Gelassenheit, gewürzt mit jener Prise von magischem Rea­lismus, der in diesem Genre gerade Mode ist. Dieser Ton trägt auch "Das erste Licht des Sommers", Fortsetzung und doch eigenständig, wieder unsentimental, nachdenklich und getränkt von Erfahrungen, die selbst wenn sie etwas trivial geraten doch zu diesem sympathisch geerdeten Buch passen - das natürlich dort endet, wo alles begann: in Stellata.

"Ich glaube , dass das Leben ein bisschen so ist, als stünde man im Auge eines Sturms, der uns einsaugt, mitreißt und uns oft unbegreiflich erscheint. Manchmal gehen wir aus diesem Strudel schlauer hervor, manchmal sind wir am Boden zerstört. Doch immer ist der Ort, von dem wir kommen, der Ort, an den wir gehen."