"Geliebte Orlando“ von Katja Kulin

Stand: 15.11.2023, 12:00 Uhr

Im Januar 1924 begannen die Schriftstellerinnen Virginia Woolf und Vita Sackville-West eine Liebesbeziehung, die etwa fünf Jahre lang dauerte und ihr Schreiben und Leben veränderte. Eine Rezension von Jutta Duhm-Heitzmann.

Katja Kulin: Geliebte Orlando
Virginia Woolf und Vita Sackville-West. Eine Leidenschaft.
DuMont Buchverlag, 2023.
276 Seiten, 23 Euro.

"Geliebte Orlando" von Katja Kulin Lesestoff – neue Bücher 15.11.2023 05:33 Min. Verfügbar bis 14.11.2024 WDR Online Von Jutta Duhm-Heitzmann

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Virginia Woolf ist sich nicht sicher: Wäre es ein Glück oder ein Fluch?

"Es noch einmal zu durchleben und zu durchspüren: das eigene Leben in den Momenten, die zählten."

Einer dieser Momente war zweifellos der Tag, an dem sie Vita Sackville-West kennenlernte. Getroffen hatten sie sich zwar schon früher, schließlich waren sie beide Schriftstellerinnen und bewegten sich in den gleichen Kreisen, zumindest zum Teil: die künstlerisch und intellektuell ziemlich arrogante Bloomsbury-Gruppe war eher Virginias Terrain, während die adlige Vita mehr in aristokratischen Kreisen zuhause war.

Doch erst an jenem Abend im Januar 1924, während des Essens bei einem gemeinsamen Bekannten, spürten die beiden Frauen eine Anziehungskraft, die Virginia verwunderte.

"In ihrer Samtjacke und mit dem zerzausten Pagenkopf sah sie (Vita) wieder göttlich aus. Das Kribbeln, das sie bei der Berührung ihrer Hände empfunden hatte, war ein Gefühl, dem sie später vielleicht noch nachspüren sollte."

So zumindest beschreibt Katja Kulin in ihrem Roman "Geliebte Orlando" den Augenblick, der zu einer der klatsch- und interpretationsträchtigsten Liebesbeziehungen der jüngeren Literaturgeschichte führte, eben die zwischen Vita Sackville-West und Virginia Woolf.

Beide waren verheiratet, mit Partnern, die nicht unbedingt den gängigen Clichés entsprachen: Vitas Mann Harold Nicolson war selbst bisexuell, Leonard Woolfs Liebe begnügte sich mit gemeinsamer Arbeit und tiefem, gegenseitigem Respekt. Beide fanden sich – wenn auch nicht gerade begeistert – mit der Beziehung ihrer Frauen ab. Virginia zögerte anfangs, doch

"zwischen ihnen gab es etwas, das es nur zwischen Frauen geben konnte: eine gemein­same Geschichte, ein Aufwachsen, das nicht selten Ausgeliefertsein bedeutete und sie dar­um a priori zu Verbündeten machte. Und waren Verbündete nicht die Einzigen, denen man sich öffnen und, nun, vielleicht, hingeben konnte?"

Treffen konnten sie sich die beiden Frauen nur sporadisch. Vita, knabenhaft, quirrlig, rast­los, abenteuerlustig, viel auf Reisen, impulsiv und unbefangen auch in ihrem Schreiben.

Virginia zart und hoch gewachsen, gesundheitlich labil, auf ständiger Gratwanderung zwischen kreativem Rausch und körperlich-seelischen Zusammenbrüchen, ihr Schreiben immer auch psychische Tiefenschürfung, bei sich, bei ihren Figuren. Einen großen Teil ihrer Liebesbeziehung lebten sie deshalb in Briefen und Tagebüchern aus. Virginia:

"Es wird beständig schlimmer – dein Fortsein (…). Ich habe mich daran  gewöhnt, dich be­harrlich, kläglich, aufrichtig zu begehren – ich hoffe, das freut dich. Mich, das kann ich dir versichern, freut es verdammt noch mal gar nicht."

Katja Kulin konnte also für ihre Romanbiographie "Geliebte Orlando" auf umfangreiches Material zurückgreifen – Vorteil und Nachteil zugleich. Denn einerseits musste sie weniger spekulieren, doch andererseits wird in ihren erzählerischen Passagen nur zu deutlich, wie schwer es ist, das Niveau ihrer beiden wortgewaltigen Protagonistinnen zu erreichen.

Dennoch ist es im Rahmen der Genderdebatten und der sich verschiebenden Geschlechtergrenzen ein gut gewählter Zeitpunkt, um wieder einmal von dieser ungewöhnlichen Liebe zu erzählen, die die beiden Frauen auch künstlerisch beeinflusste.

Das wohl schönste Ergebnis ihrer Liaison ist Virginia Woolfs literarisches Porträt von Vita, ihr Roman "Orlando": die kluge und heitere Geschichte eines unsterblichen jungen Mannes, der viele Jahrhunderte durchlebt – um am Ende als Frau aufzuwachen. Die Verkörperung ihrer viel diskutierten These:

"Es ist fatal, schlicht und einfach nur Mann oder Frau zu sein; stattdessen muss man auf weibliche Weise Mann und auf männliche Weise Frau sein."

Die Liebesbeziehung zwischen den beiden Frauen dauerte etwa von Anfang 1924 bis Ende 1929, doch selbst danach blieben sie beste Freundinnen. Und vielleicht hat ja Virgi­nia Woolf die geliebte "Orlando" Vita Sackville-West durch ihren Roman wirklich unsterblich gemacht.